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Argentinien steht vor einer Zerreißprobe

Von WZ-Korrespondent Tobias Käufer

Politik

Vizepräsidentin Cristina Kirchner soll im Zentrum eines Korruptionsskandals um öffentliche Aufträge stehen.


Noch in der Nacht versammeln sich Gegner und Anhänger von Cristina Kirchner in den Straßen von Buenos Aires. Im Ortsteil Recoleta musste die Polizei die beiden Lager mit Tränengas trennen. Die einen sind entsetzt über die Forderung der Staatsanwaltschaft, die anderen feiern, dass die Gerechtigkeit ihren Lauf nimmt. Auf jeden Fall wird in der Nacht auf Dienstag deutlich, was dem südamerikanischen Land neben dramatischer Inflation, Massenarmut und sozialer Spaltung nun auch noch droht: eine gesellschaftliche Zerreißprobe mit unbekanntem Ausgang.

Kurz zuvor hatte Staatsanwalt Diego Luciani seine Forderung verkündet: Zwölf Jahre Haft und lebenslange Ämtersperre für Kirchner, die aktuell Vizepräsidentin der linken Regierung von Präsident Alberto Fernandez ist. Doch ist sie viel mehr als die aktuelle Nummer zwei: Sie regierte nach ihrem inzwischen verstorbenen Mann Nestor (2003 bis 2007) insgesamt acht Jahre als Präsidentin das Land (2007 bis 2015) und verfügt über eine treue Stammwählerschaft. Luciani hat sich also mit der mächtigsten Frau des südamerikanischen Landes angelegt.

Die Vorwürfe: Kirchner soll einem kriminellen Korruptionsnetzwerk vorstehen, das den Staat betrogen haben soll. Zwölf weitere Personen sind angeklagt. Die Rede ist von Geldwäsche und Unterschlagung von öffentlichen Geldern. "Es geht um das größte Korruptionsnetzwerk, das das Land je gesehen hat", sagte Luciani bei seinem Schlussplädoyer. Im Zentrum steht die Baufirma Austral Construciones. Sie wurde kurz vor der Wahl Nestor Kirchners von einer Person ohne jegliche Erfahrung im Bausektor gegründet und sicherte sich bis 2015 rund 80 Prozent aller öffentlichen Straßenbauaufträge in Kirchners Heimatregion Santa Cruz in Höhe von rund einer Milliarde US-Dollar. Das lukrative Geschäftsmodell: Aus den überhöhten Baukosten kassierte das Ehepaar Kirchner eine Art Provision. Nach Ablauf der zweiten Amtszeit von Cristina Kirchner meldete Austral Construciones Konkurs an.

Geldsäcke über Klostermauer geworfen

Der Vorwurf, Teil einer kriminellen Organisation zu sein, bringt Kirchner in schlechte Gesellschaft: Im April wurde Honduras’ Ex-Präsident Juan Orlando Hernandez verhaftet und in die USA überstellt. Er soll Teil eines Ringes sein, der mit Waffen und Drogen handelt, hunderte Tonnen Kokain sollen über die Organisation in die Vereinigten Staaten geschmuggelt worden sein.

Kirchner bestreitet die Vorwürfe vehement. Den eigenen Reichtum erklärt die Familie mit "erfolgreichen Investitionen" sowie mit Einkünften aus Beratungstätigkeiten. Tatsächlich stiegen die Eheleute während der Zeit als Berufspolitiker zu Multimillionären auf. Es gibt Hotels und Ländereien, die zu ihrem Besitz zählen. Die vergangenen Jahre sind voll von bizarren Kuriositäten bis hin zu einem Kirchner nahestehenden Funktionär, der dabei gefilmt wurde, wie er Geldsäcke über die Mauer eines Klosters warf.

Präsident Fernandez, der auf die Unterstützung des Kirchner-Lagers angewiesen ist, stellt sich hinter seine Vizepräsidentin. Kein einziger Vorwurf sei bewiesen, sagte er. Kirchner selbst sieht sich als Opfer einer politisch-medialen Kampagne, um sie aus der Politik zu drängen.

Das alles trifft Argentinien inmitten einer schweren Wirtschaftskrise und vor der Präsidentschaftswahl im kommenden Jahr. Ein politisches Alphatier wie Cristina Kirchner dürfte ihre Anhängerschaft mobilisieren und das ohnehin vergiftete Klima im Land weiter anheizen. Es ist denkbar, dass sie eine erneute Kandidatur ankündigt und die Wahlen so zu einer Abstimmung über ihre Schuld oder Unschuld werden. Kirchner ist außerdem bestens vernetzt mit anderen Linkspolitikern der Region. Und die meisten ihrer internationalen Kontakte stellten sich hinter die 69-Jährige. Umgekehrt würden ihre Gegner einen Freispruch wohl ebenso wenig akzeptieren und ihrerseits die Straßen mobilisieren.

Dank ihres Amts als Vizepräsidentin genießt Kirchner Immunität. Diese verhindert, dass die Politikerin festgenommen oder bei einer Verurteilung inhaftiert wird. Ermittlungen und die Einleitung eines Verfahrens sind aber gestattet. Das Urteil gegen Kirchner wird für Ende des Jahres erwartet. Anschließend kann beim Obersten Gerichtshof Einspruch eingelegt werden. Ein rechtskräftiges Urteil könnte erst in einigen Jahren erfolgen.