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Der Fluss, der vor Gericht obsiegte

Von Judith Steinkellner

Politik
Den Fluss Whanganui verehren die Maori als Lebewesen.
© getty / Oliver Strewe

In einigen Ländern Südamerikas genießt die Natur Personenstatus. Ein Konzept, das auch für Europa denkbar ist?


Inmitten der Anden schlängelt sich im Süden Ecuadors der Río Vilcabamba durch den tropischen Regenwald. Der Fluss ist unscheinbar, auf Landkarten kaum auffindbar. Trotzdem schrieb er Geschichte. Er war der erste Fluss, der wegen seiner Verschmutzung vor Gericht zog - und gewann. Der Río Vilcabamba steht am Anfang einer weltweiten Bewegung, die für juristische Rechte für die Natur kämpft.

"Wir waren die Stimme des Río Vilcabamba", erklärt Eleanor Geer Huddle in einem Videobeitrag auf der Biennale von Sydney. Gemeinsam mit ihrem Mann Richard Frederick Wheeler hatte sie im Jahr 2011 in Stellvertretung des Flusses gegen die lokale Regierung der ecuadorianischen Provinz Loja geklagt. Durch ein Straßenbauprojekt waren Tonnen an Baumaterial in das Gewässer gelangt. Der Lauf des Vilcabamba wurde beeinträchtigt, das Grundstück des Ehepaars überflutet. Das Bauprojekt verletze die Rechte der Natur, befand das Provinzgericht von Loja letztlich.

Während halb Europa von Dürren bedroht ist, sich die Zahl der Hungernden in Afrika ausweitet und die Abholzung des Regenwalds in Brasilien heuer einen neuen Höchststand erreicht, genießt die Natur in einigen südamerikanischen Staaten Personenstatus und kann ihre Rechte vor Gericht selbst einklagen. Die Ecuadorianer waren im Jahr 2008 die Ersten: "Die ecuadorianische Verfassung misst der Natur Rechte zu. Das vor dem Hintergrund eines sehr stark indigenen Einflusses", erklärt Jens Kersten, Rechtswissenschafter und Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München, im Gespräch mit der "Wiener Zeitung".

Vorreiter Ecuador

In Artikel 71 der Verfassung heißt es: "Die Natur oder Pachamama, in der sich das Leben verwirklicht und realisiert, hat das Recht, in ihrer gesamten Existenz respektiert zu werden." Alle Menschen können in Ecuador im Namen der Natur vor Gericht ziehen und deren Recht geltend machen. Mit seinem Gesetzestext läutete Ecuador einen Paradigmenwechsel ein: Die Welt wird darin aus einem biozentrischen Blick betrachtet und als ganzheitliches Ökosystem wahrgenommen, das es zu erhalten und zu schützen gilt.

"Für viele Menschen, die sich zum ersten Mal mit diesem Konzept beschäftigen, ist das ungewohnt und wirkt auch ein bisschen animistisch", räumt Kersten ein. In den Rechtsordnungen des technokratischen Europas wird die Natur weitgehend als Objekt behandelt, über das verfügt werden kann. Naturschutz verkommt zum Objektschutz; hingegen mutet das juristische Konstrukt, die Natur als Rechtssubjekt zu behandeln, befremdlich an. Dabei sei die Idee, gewissen Dingen Personenstatus einzuräumen, auch in Europa nichts Neues, erklärt Kersten: "In der Wirtschaft machen wir das seit 500 Jahren. Wir messen einer GmbH oder Aktiengesellschaft als einer juristischen Person Rechte zu. So etwas kann man auch mit der Natur machen."

Der Rechtswissenschafter plädiert für eine "Ökologisierung" von Verfassungen: "Wenn wir die Klimakatastrophe und das Artensterben abwenden oder zumindest halbwegs eindämmen wollen, brauchen wir ein anderes Verständnis von Natur." Im September will Kersten seinen Entwurf für das deutsche Grundgesetz vorlegen, in dem die Natur eigene Rechte hat. "Wir wollen ja nicht an dem Ast sägen, auf dem wir sitzen. Aber das tun wir. Und das tun wir nur dann nicht, wenn der Baum ein Recht darauf hat, dass wir das unterlassen."

Ethisches Dilemma

Das Gegenargument lautet häufig: Der Natur Rechte einzuräumen sei Augenauswischerei. Letzten Endes müssten die Rechte der Natur ohnehin wieder von Menschen wahrgenommen werden, was darauf hinauslaufe, dass insbesondere Nichtregierungsorganisationen eine höhere Durchschlagskraft bekämen. "Aber allein die Tatsache, dass die Natur Rechte hat, heißt ja nicht, dass sie sich in der Abwägung mit den Rechten anderer immer durchsetzt", entgegnet Kersten. Letzten Endes sei es immer eine Abwägungsentscheidung zwischen den Belangen der Natur und den Rechten anderer Akteure - mit dem Unterschied, dass die Natur in Naturrechtskonzeptionen vor Gericht eine Stimme bekomme. "Es geht darum, das Subjekt-Objekt-Verhältnis von Mensch und Natur stärker aufzuheben. Aber auch, wenn wir die Natur schützen, wird es bei einer halbwegs realistischen Betrachtung nie so sein, dass wir ohne die Verwendung der Natur auskommen werden", sagt der Jurist.

Die menschliche Angewiesenheit auf natürliche Ressourcen, auch die anderer Staaten, wird durch den russischen Angriffskrieg in der Ukraine deutlicher denn je. Auf einmal werden Rohstoffe knapp, die zuvor jahrzehntelang über Grenzen hinweg gehandelt wurden. Nun sucht Europa nach Alternativen zu russischen Energieträgern.

Erst vergangenen Monat wandte sich die deutsche Ampel-Koalition mit der Frage nach mehr Kohlelieferungen an Kolumbien. Das südamerikanische Land bekennt sich seit dem Machtwechsel am 7. August, seit es erstmals von einem Sozialisten regiert wird, zu einer Dekarbonisierung der Wirtschaft und Industrie. Deutschlands Ansinnen stürzt daher Kolumbien, aber auch andere Staaten Südamerikas, in ein ethisches Dilemma - zwischen Naturschutz auf der einen und dem Ankurbeln der Wirtschaft auf der anderen Seite.

Kersten rät dazu, die Energiekrise auch als Chance zu sehen: "Wir erzählen das im Augenblick alles immer als Verlustgeschichte, dass wir jetzt kein russisches Gas mehr haben und umstellen müssen. Aus einer ökologischen Perspektive wäre das sowieso gekommen. Diese Entwicklung hat sich nun beschleunigt. Wir sollten dies als eine soziale und ökologische Chance begreifen - so schwer uns das auch fallen mag."

"Ich bin der Fluss"

Die Naturrechtsbewegung wurde ursprünglich hauptsächlich von indigenen Völkern geprägt. Auf Ecuadors Verfassungsvorstoß hin wurden in Bolivien die Rechte der Natur 2010 und 2012 gesetzlich festgeschrieben, darunter das Recht der Natur auf Leben und auf ein natürliches Gleichgewicht. In Kolumbien verlieh das Oberste Gericht dem Río Atrato 2016 den Status eines "Subjekts eigener Rechte", zwei Jahre darauf auch dem Amazonasgebiet des Landes.

In Chile wird die Bevölkerung am 4. September über eine neue Verfassung abstimmen, die jene aus der Ära des Diktators Augusto Pinochet ersetzen soll. Bei positivem Ausgang des Plebiszits wird die Natur fortan auch dort den Status eines Rechtssubjekts innehaben.

"In Südamerika hört man viel stärker auf indigene Stimmen, die ein ganz anderes Verhältnis zur Natur haben", erläutert Kersten. Das sei mit unserem "westlichen Rationalismus" schwer zu fassen. Bezeichnend für die indigene Kosmologie ist der maorische Ausspruch "Ich bin der Fluss, und der Fluss ist ich". Er ging 2017 um die Welt, als die Ureinwohner Neuseelands nach einem 140-jährigen Rechtsstreit die Zuerkennung juristischer Rechte für den Fluss Whanganui durchsetzten. Diesen verehren die Maori als Lebewesen und sehen ihn als ihren mythischen Vorfahren an. Im Rechtsakt, der den Namen "Te Awa Tupua" ("Fluss als Ahne") trägt, wird der Whanganui als "ein unteilbares und lebendiges Ganzes" mit all "seinen physischen und metaphysischen Elementen" anerkannt und mit allen "Rechten, Befugnissen, Pflichten und Verbindlichkeiten einer juristischen Person" ausgestattet.

Nachzügler Europa

In unterschiedlichen Ausprägungen existieren Naturrechte inzwischen in etwa 20 Ländern weltweit. Indigene Konzepte der Mensch-Natur-Beziehung werden zunehmend in westliche Gesetze übersetzt und verbreiten sich auf der ganzen Welt. Auch in Europa gibt es seit mehr als 50 Jahren Diskussionen um ökologische Rechte, getan hat sich bisher wenig. Das scheint sich nun zu ändern.

In Bayern fordert die Initiative "Rechte der Natur" deren Verankerung in der deutschen Verfassung und sammelt Unterschriften für ein Volksbegehren. An Spaniens Lagune Mar Menor soll erstmals ein europäisches Ökosystem mit eigenen Rechten ausgestattet werden. Das Gewässer an der Mittelmeerküste, von Einheimischen abfällig als "sopa verde" ("grüne Suppe") bezeichnet, kippt wegen Verschmutzung seit 2016 immer wieder.

Vergangenen Sommer gingen Bilder von tausenden toten Fischen am Strand der größten Salzwasserlagune Europas durch die Presse. Die Tiere sind an Sauerstoffmangel verendet. Nach einem Volksbegehren verabschiedete das Abgeordnetenhaus im Frühjahr ein Gesetz, das dem Mar Menor die Rechtsform einer juristischen Person zuerkennen soll. Bestätigt der Senat im September den Text, wäre die Lagune das erste Ökosystem Europas mit eigenen Rechten.