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Russlands großer Unverstandener

Von Michael Schmölzer

Politik

Im Westen gefeiert, in seiner Heimat viel geschmäht, später ignoriert: ein Nachruf auf Michail Gorbatschow.


Er war einer jener Politiker, die unbestreitbar den Lauf der Weltgeschichte verändert haben: Am Dienstag ist mit Michail Gorbatschow im Alter von 91 Jahren ein großer Versöhner gestorben. Jener Mann, der den Kalten Krieg beendet, die Wiedervereinigung Deutschlands ermöglicht und damit das Gesicht Europas grundlegend verändert hat.

Wobei die Trauer und Betroffenheit über das Ableben eines Staatsmannes, der Millionen Menschen ein Leben in Freiheit ermöglicht hat, vor allem im Ausland groß ist. In Russland selbst reagiert die Mehrheit mit Gleichgültigkeit und Desinteresse. Die Jahre unter Präsident Wladimir Putin haben dafür gesorgt, dass Gorbatschow in seiner Heimat weitgehend ignoriert wird. So hat der Kreml am Mittwoch noch nicht entschieden, ob dem Friedensnobelpreisträger überhaupt die Ehre eines Staatsbegräbnisses zuteilwird.

Ein Mann wie Gorbatschow passt dem Kreml nicht ins politische Konzept. Immerhin geht es der politischen Führung Russlands gerade jetzt darum, den alten Widerspruch zwischen Ost und West wieder hervorzuheben und Russland gewaltsam zu jener gefürchteten Weltmacht werden zu lassen, die die alte Sowjetunion gewesen ist. Nicht umsonst hat Putin den Zusammenbruch der Sowjetunion wiederholt als die "größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts" bezeichnet.

Glasnost und Perestroika

Gorbatschow hatte ursprünglich ganz anderes im Sinn. Er wagte ab dem Jahr 1985 das scheinbar Unmögliche: Er wollte den Kommunismus verändern, um ihn und die Sowjetunion am Leben zu erhalten. Nach Jahrzehnten der Willkür und Unfreiheit leitete er als KP-Chef und Präsident einen Reformkurs ein. Mit einer Politik von Glasnost (Offenheit) und Perestroika (Umgestaltung) wollte er das marode wirtschaftliche und politische System des Landes vor dem Zerfall retten.

Die Bemühungen endeten aus seiner Sicht tragisch mit dem Zusammenbruch des Kommunismus. Wobei Gorbatschow, anders als seine Vorgänger, die Revolutionen in den "Bruderländern", darunter Österreichs Nachbarn Tschechoslowakei und Ungarn, gewähren ließ. 1968 war der "Prager Frühling" blutig niedergeschlagen worden. Davor, 1956, die Freiheitsbestrebung in Ungarn. Dass die Berliner Mauer gefallen ist und die Teilung Deutschlands beendet wurde, ist Gorbatschows Verdienst. Legendär ist sein Ausspruch "Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben", der gegen das verknöcherte Honecker-Regime in der DDR gerichtet war. Ob Gorbatschow diesen Ausspruch jemals wirklich getätigt hat, ist allerdings nicht bewiesen.

Wobei er zuvor mit zahlreichen Tabus gebrochen hatte. So nannte er in einer für den Kreml bis dahin unbekannten Offenheit die Verbrechen unter Josef Stalin beim Namen, dessen grausames Vorgehen er als Jugendlicher bewusst mitbekommen hat. Gorbatschow kritisierte das Massaker an tausenden polnischen Offizieren 1940 in Katyn. Er legte auch ein geheimes Zusatzprotokoll zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt von 1939 offen. Nach zehn Jahren Krieg am Hindukusch sorgte er 1988 für den sowjetischen Truppenabzug aus Afghanistan.

Bis heute steht Gorbatschows Name für eine historische atomare Abrüstung, die er mit US-Präsident Ronald Reagan auf den Weg gebracht hatte. Zum ersten Mal vereinbarten die USA und die Sowjetunion eine Reduzierung ihrer Langstreckenwaffen. Rund dreißig Prozent der Raketensysteme sollten innerhalb von sieben Jahren vernichtet werden. Beide Staaten gestatteten Kontrollen der jeweils anderen Seite. Vor seinem Tod musste Gorbatschow dann mit ansehen, wie ein Abrüstungsvertrag nach dem anderen entsorgt wurde.

Kritik an Putins Krieg

Während Gorbatschow im Ausland gefeiert wurde, hielt sich die Begeisterung in Russland immer schon in engen Grenzen. Zu seinen umstrittenen Initiativen gehört etwa ein landesweites Alkoholverbot. Noch heute sehen viele Russen den Ex-Präsidenten als Zauderer, den "Totengräber der Sowjetunion", der das Land ins Chaos gestürzt hat. Der Zerfall der Sowjetunion 1991 bedeutet auch das Ende der Ära Gorbatschow.

In einer Bilanz meinte Gorbatschow einst, die sowjetische Gesellschaft sei "unreif" gewesen für massive Reformen. Dabei musste er mit Herausforderungen kämpfen, denen er nicht gewachsen war. So etwa mit der Explosion eines Reaktors im Kernkraftwerk von Tschernobyl 1986. Sie führte zur größten Atomkatastrophe in der zivilen Nutzung der Nuklearenergie mit tödlichen Folgen radioaktiver Verstrahlung. Und nicht zu Unrecht wurde Gorbatschow im In- und Ausland für die zögerliche Informationspolitik, für die er die Verantwortung trug, kritisiert. Die Litauer wiederum verzeihen Gorbatschow bis heute nicht, dass seine Armee am "Blutsonntag", dem 13. Jänner 1991, 13 Zivilisten tötete, die bei einer Demonstration die Ablösung von der Sowjetunion forderten.

Was das Russland unter Kremlchef Wladimir Putin betrifft, äußerte sich Gorbatschow immer wieder kritisch: Wiederholt prangerte er die Kremlpartei Geeintes Russland als "schlechte Kopie der Kommunistischen Partei der Sowjetunion" an. Die Verfassung, die Gerichte, das Parlament - alles sei eine "Imitation von Demokratie". Putin habe seine Macht so zementiert, dass anderen politischen Kräften keine Luft zum Atmen bleibe, so Gorbatschow.

Zuletzt war er vor allem als Buchautor aktiv. Zum Krieg gegen die Ukraine hat sich der gesundheitlich extrem Geschwächte öffentlich nicht mehr geäußert. Laut Weggefährten verurteilte den Angriffskrieg gegen das Nachbarland. In den letztren Jahren seines Lebens hat Gorbatschow aber immer wieder Kritik am Verhalten des Westens geübt. Er prangerte die "Arroganz" der vermeintlichen Sieger des Kalten Krieges an. Die USA bezeichnete er sogar einmal als "Seuche der Welt". Als einen Verrat des Westens an den Zugeständnissen an Moskau bei der deutschen Wiedervereinigung empfand er stets die Osterweiterung der Nato.

Mehrmals Gast in Österreich

Gorbatschow war enttäuscht, dass die Deutschen mit der EU und den USA im Ukraine-Konflikt eine Politik der Sanktionen gegen Russland fahren. "Das erklärte Ziel ist es, Russland zu bestrafen." Die Strafmaßnahmen für die russische Annexion der ukrainischen Schwarzmeer-Halbinsel Krim von 2014 wollte er ebenso wenig einfach hinnehmen wie der Kreml. "Denn die Sanktionen haben nur eine einzige Wirkung: Die gegenseitige Entfremdung nimmt zu."

Innenpolitisch drängte Gorbatschow weiter auf Reformen. "Wir brauchen Demokratie. Ohne die wird es keine Modernisierung geben."

Nach dem Ende seiner Amtszeit ist Gorbatschow mehrmals Gast in Österreich gewesen: 1995 kam er mit seiner Frau Raissa nach Wien, wo er fünf Tage lang mit Thomas Klestil, Franz Vranitzky, Wolfgang Schüssel und Heinz Fischer - zu diesem Zeitpunkt Bundespräsident, Bundeskanzler, Außenminister und Nationalratspräsident - Gespräche führte und eine Reihe von Vorträgen hielt. Empfangen wurde er vom damaligen Wiener Bürgermeister Michael Häupl, mit dem er auch zum Heurigen ging. Österreich müsse seine Neutralität unbedingt beibehalten, auch wenn sich die sicherheitspolitische Situation geändert hätte, so Gorbatschow, der damals die SPÖ unterstützte. Er war es gewesen, der 1991 den Österreichern die Erlaubnis zum EU-Beitritt gegeben hatte. Bei seiner nächsten Wien-Visite im November 2000 war von Kritik an Putin noch keine Rede: Vielmehr lobte Gorbatschow die Politik des damaligen Neo-Präsidenten. Dieser sei ein "kluger, verantwortungsvoller Mensch" und gehe mit Russland den richtigen Weg.

Biden würdigt den Toten

Putin kondolierte der Familie Gorbatschows, ohne dessen Verdienste explizit zu würdigen. Das tat der deutsche Kanzler Olaf Scholz. Gorbatschows Politik habe es möglich gemacht, "dass Deutschland vereint werden konnte und der Eiserne Vorhang verschwunden ist". Nun sei er in einer Zeit gestorben, "in der nicht nur die Demokratie in Russland gescheitert ist", sondern in der der russische Präsident Wladimir Putin auch neue Gräben in Europa ziehe. Der im Straflager inhaftierte Kremlgegner Alexej Nawalny nannte den Verstorbenen einen "herausragenden Mann". US-Präsident Joe Biden würdigte Gorbatschow als einen "Mann mit einer bemerkenswerten Vision". Er sei ein Politiker gewesen, der sein Leben mit einem großen Engagement für Frieden und Freiheit dem Dienst an der Öffentlichkeit gewidmet habe, schrieb EU-Ratspräsident Charles Michel. "Kaum einer hat das vergangene Jahrhundert, aber auch unser heutiges Europa, so geprägt wie er", twitterte Bundespräsident Alexander Van der Bellen.

Seine letzte Ruhe soll "Gorbatschow auf dem Neujungfrauenfriedhof in Moskau neben seiner Frau Raissa finden.