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Ein Referendum zwischen Hoffnung und Enttäuschung

Von Sabine Ertl

Politik
Ein Radfahrer in Santiago passiert eine gigantische Installation von Artikel 160.1, der neuen chilenischen Verfassung. Sie soll jene aus der Pinochet-Ära ersetzen. Es wäre ein historischer Schritt.
© Reuters / Ivan Alvarado

Die Chilenen entscheiden über eine neue Verfassung, die das Land von Grund auf ändern soll. Die Lager sind gespalten.


Konservativ und neoliberal oder progressiv und sozial. Chile hat am 4. September erneut, nach nur knapp einem halben Jahr, als sich das Land für einen linken Präsidenten entschied, die Wahl zwischen zwei Extremen. Eine neue chilenische Verfassung soll das aus der Pinochet-Militärdiktatur stammende Grundgesetz ersetzen.

Chiles Präsident Gabriel Boric, der seit 11. März im Amt ist, unterstützt die neue Verfassung. "Es wäre ein großer Schritt nach vorne für Chile. Aber auch wenn die Gegner gewinnen, werden wir es schaffen. Wir brauchen dann nur etwas länger", so Boric im Wortlaut. Es könnte im Fall einer Ablehnung aber für den jungen Präsidenten durchaus schwierig werden, seine Wahlkampfversprechen auch umzusetzen.

Schließlich gehört die neue Verfassung zu den Hauptanliegen der Demonstranten, die in dem südamerikanischen Land Ende 2019 einen besseren Zugang zu Gesundheitsversorgung und Bildung sowie eine Abkehr vom neoliberalen Wirtschaftssystem forderten. Mit großer Mehrheit hatten die Chilenen im Oktober 2020 für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung gestimmt. Der Konvent hatte im Juli 2021 seine Arbeit aufgenommen und einen Text mit 499 Artikeln ausgearbeitet. Darüber votieren nun mehr als 15 Millionen Chilenen.

Die Zahl der Unentschiedenen ist hoch. Letzten Umfragen zufolge gaben 10 bis 15 Prozent an, nicht teilzunehmen. Die anderen sind entweder im Lager der Zustimmer "Apruebo" oder der Ablehner "Rechazo" zu finden. Demnach kommen die Gegner auf 56 Prozent, die Befürworter "Apruebo" auf 4 bis 12 Prozent weniger. "Das wahrscheinlichste Ereignis ist, dass die Ablehnung gewinnt, und der Unterschied in diesem Ergebnis hängt davon ab, wie viele Menschen abstimmen und wer abstimmt", hieß es von Marcelo Mella, Politikwissenschaftler an der Universität von Santiago. Unvorhersehbar macht das Ergebnis am Sonntag auch, dass erstmals eine Flut von Gefangenen und Neuzuwanderern abstimmen kann.

Die einen bezeichnen jedenfalls das neue Grundgesetz als "Millennial-Verfassung" und eine endgültige Abkehr vom Erbe der Diktatur. Als einen klaren Aufbruch in ein demokratischeres Land und einen Garant für marginalisierte Gruppen. Den Skeptikern jedoch sind die Punkte Ökologie, Umwelt und Autonomie von Indigenen nicht geheuer. Davon ist in der noch gültigen Verfassung keine Rede. Abgelehnt wird auch, dass das rohstoffreiche Chile Natur und Umweltschutz einen höhren Stellenwert einräumt als der Ausbeutung von Rohstoffen. Oder großzügig jenen soziale Rechte einräumen könnte, die bisher wenige hatten. Das betrifft die Anerkennung verschiedener indigener Nationen und Urvölker. Von "Plurinationalität", einem plurinationalen Staat, ist die Rede: Abspaltungstendenzen von indigenen Ethnien werden zudem befürchtet.

Umwelt, Indigene, Homosexuelle

Eine große Sorge gilt dem kompletten Umkrempeln der marktorientierten Wirtschaftsstruktur. Gänzlich neu wären auch gleichgeschlechtliche Ehen oder das Gendern sowie das Recht auf Abtreibung. Die älteren Generationen können damit wenig anfangen. Ebenso die konservativen Rechten im Land. Umstritten ist weiters die Einrichtung eines Justizrates anstelle der Justiz mit einem speziellen einheimischen Rechtssystem.

Es ist ein Kampf zwischen Befürwortern und Gegnern entbrannt. Dieser wird mit harten Bandagen geführt. So hat die Opposition dem linken Präsidenten vorgeworfen, dass er sich auf der Seite des Apoyo-Lagers eingemischt habe. Und dass er bereits bei einer Ablehnung an einer Überarbeitung der Texte feile. Immerhin stößt der aktuelle Entwurf auf Interesse, es ist das meistverkaufte Sachbuch in Chile.

Doch die Gegebenheiten im Andenstaat haben sich verschlechtert: Stockende Wirtschaftsleistung und angespanntes politisches Umfeld, der Peso ist auf ein Allzeittief gefallen und die Inflation so hoch wie vor 28 Jahren. Gewalt und Kriminalität haben zugenommen. Die Zustimmung für Boric liegt bei nur 38 Prozent.

Seine Popularität nimmt ab, je näher die Schlüsselabstimmung kommt. International wird der 36-jährige als Vorzeigemodell der politischen Entwicklung in Südamerika präsentiert. Er ziert sogar als "The New Guard" das Titelblatt des aktuelles "Time Magazine". Man bezeichnet ihn als einen, der sein Land durch historische Momente des Wandels führt. Doch seine Gegner werden nicht müde, Unsicherheiten im Mittelstand zu schüren und Fake News zu streuen. In den letzten Wochen wurde vermehrt in den sozialen Medien behauptet, dass mit der neuen Verfassung Privateigentum verboten oder Abtreibungen im neunten Monat erlaubt sind. Laut Meinungsforscher von Datavoz sind etwa 65 Prozent der Befragten auf solche Fake News gestoßen und hätten seither ihre Meinung geändert. Sie würden nunmehr den Text ablehnen.

Geballte Desinformation Bolsonaros

Geballte Desinformation hat auch der brasilianische Präsident Jair Bolsonaro letzte Woche verlautbart. Er hatte behauptet, dass Boric im Jahr 2019 bei Protesten "die U-Bahn in Brand gesteckt" habe. Das chilenische Außenministerium entgegnete umgehend, dass diese Behauptungen "absolut falsch" seien und diese nicht nur die Bindung zwischen unseren Ländern, sondern auch die Demokratie" untergraben. Es bleibt somit spannungsgeladen, für welchen Weg der Demokratie sich die Chilenen entscheiden. Mit der neuen Verfassung ist ein postneoliberales Zeitalter statt autoritärer Sicherheit in greifbare Nähe gerückt.