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Der chinesischen Willkür ausgeliefert

Von Klaus Huhold

Politik

Sayragul Sauytbay hat ein chinesisches Umerziehungslager erlebt - und berichtet Fürchterliches.


Sayragul Sauytbay hat vor Menschen unterrichtet, die schwere Verletzungen aufwiesen, kahlgeschoren oder in Ketten gelegt waren. Flankiert von schwer bewaffneten chinesischen Wachen, musste sie ihren Schülern Unterrichtsstoff über chinesische Bräuche beibringen. Ihre Schüler, das waren die Insassen eines der Camps, die das chinesische KP-Regime als Berufsbildungseinrichtungen bezeichnet. Schätzungen zufolge, die sich auf Satellitenaufnahmen, Zeugenaussagen, in die Öffentlichkeit gelangte chinesische Regierungsdokumente und die Untersuchungen verschiedener Forscher beziehen, sind etwa eine Million Angehörige von Minderheiten in der Provinz Xinjiang in diesen Lagern eingesperrt. Besonders betroffen sind die moslemischen Uiguren und Kasachen.

Sayragul ist selber Kasachin. Die Medizinerin war selbst Mitglied der Kommunistischen Partei, hat als Ärztin und im Schulwesen gearbeitet. Doch als Kasachin bekamen sie und ihre Familie zunehmend den Druck der chinesischen Behörden zu spüren. Von November 2017 bis März 2018 wurde sie vom Staat gezwungen, als Lehrerin in einem Umerziehungslager zu arbeiten, in dem rund 2.500 Kasachen eingesperrt waren.

Was sie dort nach eigenem Bekunden sah: Schläge gegen Gefangene, Vergewaltigungen von Frauen, Insassen, die in hell erleuchteten Zellen schlafen sollten und gezwungen wurden, laut ihre Liebe zur Kommunistischen Partei zu bekunden. Frauen, die medizinische Behandlungen erhielten, um sie unfruchtbar zu machen.

"Die Menschen werden wie Maschinen", sagt Sayragul Sauytbay.
© Moritz Ziegler

Nachdem ihr 2018 die Flucht nach Kasachstan gelungen war, wurde sie eine der ersten öffentlichen Zeuginnen dieses Unterdrückungsapparates. Weil Sayragul die Abschiebung nach China drohte, erhielt sie mittlerweile in Schweden Asyl. Trotz Einschüchterungen - "Drohungen gegen mich und meine Familien gehören mich zum Alltag" - legt Sayragul weiter Zeugnis ab und hat mit der deutschen Journalistin Alexandra Cavelius die Bücher "Die Kronzeugin" und "China Protokolle" veröffentlicht. Nun war sie auf Einladung der Nationalratsabgeordneten und ÖVP-Menschenrechtssprecherin Gudrun Kugler in Wien zu Gast.

Sie berichtete dabei in einem Gespräch mit der "Wiener Zeitung"von einem System, in dem eine Gruppe die absolute Verfügungsgewalt über eine andere erhält. "Die Wächter in den Lagern haben von der chinesischen Regierung die unbegrenzte Macht über die Insassen bekommen. Und die Gefangenen sind für sie keine Menschen."

Damit sei dem Missbrauch Tür und Tor geöffnet. "Ich habe gesehen, wie die Wächter Frauen vor den anderen Insassen missbraucht haben. Wer eine Gefühlsregung zeigt, und seien es auch nur Tränen in den Augen, wurde bestraft." Denn das sei als Widerstand gegen die Partei ausgelegt worden, berichtet Sayragul.

Auch außerhalb der Lager lebt man wie im Gefängnis

Der chinesische Staat weist derartige Vorwürfe von sich. Den Behörden zufolge erhalten die Minderheiten in den Camps eine Berufsausbildung.

Doch die Beweislast wird immer erdrückender: Unabhängig voneinander haben schon mehrere Frauen von Vergewaltigungen berichtet. Auch die UNO hält in ihrem jüngsten Bericht zu Xinjiang fest, dass sie bei ihren Recherchen zu den Lagern auf Muster von Folter oder anderen Formen grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung - darunter auch sexuelle Übergriffe - oder Bestrafung gestoßen sei. Und auch die Vereinten Nationen kritisieren, dass bisher offenbar noch kein einziger Wärter für Übergriffe belangt worden wäre.

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Die Lager wurden nach einer Reihe von Anschlägen durch uigurische Terroristen errichtet. Mit der Zeit reichte es aber, einen Bart oder Verwandte im Ausland zu haben, um dort zu landen.

"Weil es sich um Moslems handelt, nutzt das Regime den Deckmantel des Terrorismus, um ein ganzes Volk zu vernichten", sagt Sayragul. Zumal sich die Verfolgung nicht auf die Lager beschränkt. "Außerhalb der Lager befinden sich die Menschen in einem offenen Gefängnis."

Denn die Minderheiten haben sich vollkommen der Partei zu unterwerfen, jegliches Festhalten an eigenen kulturellen und religiösen Gebräuchen erweckt Verdacht. Der chinesische Staat setzt dafür seine gesamten Überwachungsinstrumente ein: Überall sind Kameras, der Handyverkehr der Leute wird genau kontrolliert. Und die Minderheiten sind auch im Alltag Willkür und Machtmissbrauch ausgesetzt. So reicht oft eine schlechte Bewertung durch chinesische Mitbürger bei den Behörden, um in eines der Lager zu kommen.

Deshalb zählt für Sayragul auch nicht das Argument, dass die moslemischen Minderheiten die gleichen Chancen wie die Han-Chinesen hätten, wenn sie sich anpassen. "Bei einer gewissen ethnischen Zugehörigkeit kann einen jederzeit der Bannstrahl des Terrorismusverdachts treffen."

Das System zeige jedenfalls Wirkung, berichtet Sayragul. Unter all dem Druck, all der Verfolgung, all der Propaganda "werden die Menschen wie Maschinen, sie hören auf zu denken und zu reflektieren". Sie würden zu "Parteirobotern" werden, sagt sie. Das sei in so einem Umfeld eine Überlebensstrategie.

Sayragul hofft, dass die Verbrechen benannt werden

Die Volksrepublik reagiert auf jede Kritik an den Zuständen in Xinjiang erbost und spricht von inneren Angelegenheiten. Am schärfsten verurteilen die USA die Zustände, auch aus Europa kommt immer wieder, wenn auch wesentlich verhaltener, Kritik. Generell schrecken aber die meisten Staaten vor einer zur scharfen Anklage zurück.

Auch Sayragul ist sich bewusst, dass in Europa starke wirtschaftliche Abhängigkeiten zu China bestehen. Trotzdem ist es ihr Anliegen, dass es auch Aufmerksamkeit zu den Zuständen in Xinjiang gibt. Von einem Staat wie Österreich, wo sie auch mit zahlreichen Parlamentariern zusammengetroffen ist, wünscht sie sich, dass er die Verbrechen in Xinjiang - die Sayragul als "ethnischen Genozid" bezeichnet - benennt und selbst Bewusstsein dafür hat, was es für eine Demokratie bedeutet, wenn sie sich mit einer Diktatur verflicht.