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"Das iranische System ist extrem zählebig"

Von Michael Schmölzer

Politik

Experte Reinhard Schulze im Gespräch mit der "Wiener Zeitung" über die Erfolgsaussichten einer Rebellion.


Der Iran wird nach dem Tod einer jungen Frau von Protesten erschüttert, sowohl Sicherheitskräfte als auch Demonstranten treten immer aggressiver auf. Zuletzt war die Rede von mehr als 40 Todesopfern, die Polizei nahm allein im Norden des Landes mehr als 1.000 Menschen fest. Junge Protestierende beschädigen laut Augenzeugen öffentliche Einrichtungen, setzen Autos und Mülleimer in Brand und verprügelten Polizisten. Die "Wiener Zeitung" hat mit dem Iran-Experten Reinhard Schulze gesprochen.

Wiener Zeitung: Die Proteste im Iran werden immer radikaler und gewalttätiger - von Seiten der Demonstranten und des Regimes. In welche Richtung bewegt sich das alles Ihrer Meinung nach?

Reinhard Schulze: Im Prinzip ist klar, in welche Richtung das geht: In Richtung Systemkritik. Das System selbst steht zur Disposition. Ich weise immer darauf hin, dass der Iran sich besonders dadurch ausweist, dass es diese doppelte Machtorganisation gibt: auf der einen Seite die offizielle Regierung und auf der anderen das System der islamischen Revolution, das auch nach der iranischen Verfassung als komplementäres System hinzutritt. Den Demonstranten in ihrer Systemkritik geht es vor allem darum, das System der islamischen Revolution abzuschaffen.

Wie wird dieses Regime jetzt auf die Proteste reagieren? Glauben Sie, dass es in irgendeiner Form Zugeständnisse geben könnte?

Wenn wir in jener Zeit lebten, in der Mohammad Chatami Präsident war, dann hätte man erwarten können, dass tatsächlich Zugeständnisse gemacht werden. Chatami hatte sich ja sehr kritisch gegenüber Einrichtungen wie der Sittenpolizei geäußert. Heute ist klar, dass Präsident Ebrahim Raisi auf eine Unterstützung durch das System der islamischen Revolution selbst setzt. Er möchte ja Nachfolger von Ali Chamenei, dem religiösen Oberhaupt des Iran, werden. Klar ist, dass er stark auf der Seite des islamischen Religionssystems steht und damit der gesamten politischen Verwaltung durch Parlament, Regierung und Ministerien eher die Stirn bieten wird. Das wird zu einer Radikalisierung der Reaktion der Regierung auf die Proteste führen.

Der Anlass für die Proteste ist der mutmaßlich gewaltsame Tod einer Studentin, aber warum kommt es gerade jetzt zu dieser Explosion? Liegt das an der Person Raisi?

Da hat sich in der Bevölkerung etwas aufgestaut, ein Anspruch auf Souveränität und Freiheit, schon in den vergangenen Monaten oder Jahren. Dann braucht es nur noch einen Auslöser, der diesen aufgestauten Anspruch an die Oberfläche bringt. Das ist genau mit dem Fall dieser armen Frau passiert, die ja in eine völlig apolitische Situation hineingeraten ist und dann letztendlich durch die polizeiliche Tötung zum großen Opfer wurde. Hinzu kommt, dass im Zuge der Auseinandersetzung um die Allianz mit Russland auch die Legitimität des Regimes immer stärker in Frage gestellt wird. Für die Demonstranten ist nicht mehr eindeutig klar, dass man sich auf die Seite des Regimes zugunsten Russlands stellen sollte. Der Ukraine-Krieg hat sicherlich maßgeblich dazu beigetragen, dass die Möglichkeit der Systemkritik stärker in das öffentliche Bewusstsein dringt.

Vor mehr als zehn Jahren gab es im Iran massive Proteste der "grünen Bewegung". Da haben wir im Westen geglaubt, es könnte wirklich zu einem Regimewechsel kommen. Warum erweist ich das Mullah-Regime als so zählebig?

2009/2010 war klar, dass es um eine Korrektur der politischen Ordnung geht. Das war ein relativ "geordneter" öffentlicher Protest. Das politische Ziel war klar: Wahlfälschung aufzudecken. Heute ist kein klares politisches Ziel gegeben. Es ist eine ganz breite Stimmung in der Bevölkerung, die jetzt zum Tragen kommt, sich von diesem politischen System insgesamt zu befreien. Die Radikalität des Widerspruches ist viel größer, als sie 2009 war. Die Frage ist: Wie tragfähig ist dieser Protest? Das System ist extrem zählebig. Seit 43 Jahren hält sich eine Ordnung, die in anderen Kontexten schon längst zusammengebrochen wäre. Das Besondere an der iranischen Situation ist diese doppelte Machtorganisation, das schafft diese Zählebigkeit die es ihr sogar erlaubt, einen achtjährigen Krieg (mit dem Irak, Anm.) mit hunderttausenden Toten zu überleben. Das ist äußerst selten. Meist stürzt dann das System, das so viel Leid auch mitproduziert hat. Für die Bevölkerung ist es ungeheuer schwer, gegen eine solche doppelte Machtorganisation gleichzeitig zu protestieren. Bislang ist nicht klar, in welche Richtung das gehen wird.

Ist es eine Rebellion der urbanen Elite?

Die (von der Sittenpolizei festgenommene, Anm.) Frau Amini kommt aus einer kleineren Stadt. Die Provinzstädte sind das Zentrum der Proteste. Es erinnert ein wenig an Syrien, wo das auch der Fall war.