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Plötzlich muss Lula zittern

Von WZ-Korrespondent Tobias Käufer

Politik

Das Duell um die brasilianische Präsidentschaft zwischen Bolsonaro und Lula ist knapper ausgegangen als prognostiziert. Bei der Stichwahl scheint auch ein Sieg des Amtsinhabers nicht mehr ausgeschlossen.


Es dauerte einige Zeit, bis der Wahlsieger in Brasilien vor die Anhänger trat: Luiz Inacio Lula da Silva hatte mit 48,43 Prozent zwar die Wahl vor Präsident Jair Bolsonaro gewonnen. Trotzdem war die Freude im Lager des linken Herausforderers am Abend verhalten. Das lag einerseits daran, dass der in den Umfragen für möglich gehaltene Triumph des 74-jährigen Ex-Präsidenten im ersten Wahlgang ausblieb, zum anderen aber vor allem daran, dass der rechtspopulistische Amtsinhaber mit 43,20 Prozent deutlich mehr Stimmen holte als vorhergesagt. Mehr noch: Plötzlich scheint ein Sieg Bolsonaros in der Stichwahl am 30. Oktober, der noch in allen Umfrageszenarien bis zum Wochenende kategorisch ausgeschlossen wurde, nicht mehr unmöglich. "Das ist nur eine Verlängerung", sagte Lula an seine Anhänger gerichtet. "Wir kämpfen um den Sieg bis zum Ende."

Dass die Umfrageinstitute IPEC und Datafolha bei Bolsonaro teilweise um zehn Prozent daneben lagen, ist aber nicht nur eine Schmach für die brasilianische Meinungsforschung. Im Lula-Lager wird auch befürchtet, dass die Anhänger Bolsonaros nun die These einer Wahlmanipulation weiter vorantreiben könnten. Dass Bolsonaros Wähler eine hauchdünne Niederlage im zweiten Wahlgang nicht akzeptieren würden, wird damit ein Stück wahrscheinlicher.

Trotzdem geht Lula als Favorit in die Stichwahl. Sein eigenes Lager ist durch das besser als erwartet ausgefallene Ergebnis für Bolsonaro aufgeschreckt worden, gleichzeitig dürfte es nun bis in die Haarspitzen motiviert sein: Wer Bolsonaro verhindern will, wird am 30. Oktober zur Wahl gehen und für Lula stimmen. Wenn der Ex-Präsident keinen schweren Patzer mehr macht, wird er voraussichtlich knapper als erwartet, aber doch gewinnen. Ankommen wird es dabei aber nicht zuletzt auf die Wahlempfehlungen der moderaten Mitte-Kandidaten Simone Tebet und Ciro Gomes, die am Sonntag vier und drei Prozent der Stimmen auf sich vereinen konnten.

Kirchen als Verstärker

Warum nun Bolsonaro besser abgeschnitten hat, ist in den sozialen Netzwerken aber auch in den Kolumnen der brasilianischen Medien ein heiß diskutiertes Thema. Offensichtlich empfindet ein nicht unerheblicher Teil der Wählerschaft die Lage im Land als nicht so schlimm oder dramatisch, wie sie in den nationalen oder internationalen Medien geschildert wird. Die wichtige Agrar-Industrie fährt Rekordgewinne ein, ebenso der für das volkswirtschaftliche Selbstbewusstsein der Brasilianer so wichtige Erdölkonzern Petrobras, der vor einigen Jahren noch am Boden lag. Die Mordrate ist auf dem niedrigsten Stand seit 2007, und die Steuersenkung auf Sprit kommt bei den Leuten ebenso an wie das überlebenswichtige Krisenhilfsgeld für arme Familien in Höhe von 120 Euro.

Hinzu kommt, dass Bolsonaro ein perfektes Zusammenspiel mit den erzkonservativen evangelikalen Kirchen gelingt. Er liefert mit den Schlagworten Vaterland, Gott, Freiheit und Familie das ideologisch-spirituelle Rüstzeug, sorgt für Steuergeschenke, und die Kirchen werben im Gegenzug für Bolsonaro. Dass laut Prognosen die Zahl der Gläubigen der evangelikalen Kirchen in wenigen Jahren die katholische Kirche überflügeln, zeigt, dass der Bolsonarismus gekommen ist, um zu bleiben. Die klassisch konservativen Kräfte bleiben da auf der Strecke. Die evangelikale Bischöfin Valnice Milhomens sprach noch am Abend von "Kriegern des Gebets" und appellierte an die evangelikalen Gläubigen: "Wir müssen alle spirituellen Waffen in Richtung der Wahlen aktivieren."

Hinzu kommt aber auch noch ein Stück weit Unbehagen wegen Lulas politischer Mitverantwortung für die Korruptionsskandale aus der Vergangenheit. Dass Lula einen Großteil ehemaliger Weggefährten oder Figuren aus der "guten alten Zeit" zurück auf die Bühne geholt hat, ist aus diesem Blickwinkel vielleicht sogar eher ein Nachteil. Ein wirklicher Neuanfang wäre das nicht, eher ein Anti-Bolsonaro-Bündnis.

Wer auf die Karte mit der Wählerstimmenverteilung sieht, erkennt jedenfalls die tiefe Spaltung des Landes. Der wirtschaftlich wohlhabendere Süden und Westen Brasiliens stehen auf der Seite Bolsonaros, der deutlich ärmere Norden und Osten auf der Seite Lulas.