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Chinas durchdringender Blick auf den Westen

Von Bernhard Seyringer

Politik
Chinas Präsident Xi Jinping will sein Land zur Weltmacht Nummer eins machen. Im Hintergrund arbeitet dafür ein kaum zu überblickendes Netzwerk an Organisationen, das Daten und Wissen im Westen sammelt.
© getty images / Young

Während die Volksrepublik lange Zeit bloß als Absatzmarkt betrachtet wurde, sammelt sie ihrerseits schon seit Jahrzehnten mit immensem Aufwand strategisches und technologisches Wissen über Europa und die USA.


In den vergangenen drei Jahrzehnten war China für den Westen vor allem ein wirtschaftlicher Sehnsuchtsort. Mit 1,4 Milliarden Menschen ist die Volksrepublik der potenziell größte Absatzmarkt der Welt, der Aufstieg einer großen kaufkräftigen Mittelschicht verspricht glänzende Absatzmöglichkeiten. Schon seit Jahren verkaufen die deutschen Autobauer in China mehr Fahrzeuge als in Europa, der Luftfahrtkonzern Airbus sammelte zeitweise Bestellungen von mehr als hundert Maschinen ein.

Jenseits der wirtschaftlichen Perspektive weist der westliche Blick auf China aber zahlreiche blinde Flecken auf. Selbst Deutschland und Frankreich, die seit den 1980er Jahren die Handelsbeziehungen intensiv vorangetrieben haben, erachten es erst seit relativ kurzer Zeit für notwendig, eine nennenswerte und permanente Analyse chinesischer Außen- und Technologiepolitik zu betreiben.

China weiß dagegen viel mehr über den Westen als umgekehrt. Das zeigt ein genauer Blick darauf, welche Heerschar an Organisationen damit beschäftigt ist, Wissen, vor allem auch technologisches, zu sammeln. Während die Blicke auf den Parteitag am 16. Oktober gerichtet sind, bei dem die neue Führungsriege bestimmt und Staats- und Parteichef Xi Jinping eine dritte Amtszeit erhalten wird, sind das die Strukturen, die im Hintergrund an Chinas Aufstieg mitwirken sollen.

Chinas Rolle in der Entwicklung und Anwendung von digitalen Überwachungstechnologien und der Cyberspionage sind zwar mittlerweile weltweit ein Thema, aber dieser enge Blickwinkel verstellt immer noch die Sicht auf das tatsächlich größere Ganze. Denn neben diesen Aufgabenbereichen, die seit 2017 hauptsächlich der Strategic Support Force der Armee zuzurechnen sind, gibt es ein der Kommunistischen Partei direkt zuzurechnendes Netz an Organisationen, die für die Informationsbeschaffung in den Feldern Wissenschaft und Technologie und das digitale Sammeln von sensiblen Daten auf globaler Ebene zuständig sind.

"Magische Waffen" der KP

Dazu gehört vor allem die United Front (UF), die von Mao Zedong in den späten 1930er Jahren als eine der "Drei Magischen Waffen" der Partei gegründet wurde. Nach der Machtübernahme durch Xi Jinping im Jahr 2012 wurde ihre Rolle gestärkt und ihre Leitung dem langjährigen Xi-Vertrauten Huang Kunming übergeben. In der Regel haben sämtliche Staatsunternehmen, aber auch viele ausländische Privatunternehmen, interne UF-Sektionen. Eine Studie des französischen Verteidigungsministeriums schätzt, dass die UF über eine interne Datenbank von rund 2,2 Millionen chinesischen Wissenschaftlern im Ausland verfügt.

Das International Liaision Departments, seit 2015 von Song Tao geführt, ist dem Zentralkomitee der Kommunistischen Partei unterstellt und hauptsächlich für die Beziehungen zu politischen Parteien zuständig. Nach eigenen Angaben unterhält es Beziehungen zu 600 Parteien in 160 Ländern oder Regionen. Beide Organisationen haben vorwiegend drei Ziele: die Mobilmachung der Auslandschinesen, die Kontrolle der Narrative über China - vor allem bei politisch brisanten Themen wie Tibet oder Taiwan - und das Sammeln von Informationen.

Seit Mitte der 1950er Jahre ist China in diesem Bereich im Westen sehr aktiv. Der dafür entwickelte Staatsapparat ist ein vielschichtiges und fast undurchschaubares System, bestehend aus einer Vielzahl an Institutionen. Laut einer Schätzung der George Washington University sind darin mehr als 100.000 Mitarbeiter mit dem Sammeln und Auswerten von Daten beschäftigt, die als Open Source frei zugänglich verfügbar sind. Es handelt sich dabei also nicht um Spionage, sondern um die Analyse von Fachjournalen, Thinktank-Berichten, Daten aus der Wirtschaftsforschung und von staatlichen Institutionen, bis hin zu Dissertationen und Patenten. Kein anderes Land hat einen vergleichbaren Apparat.

Die Bedeutung wurde vom damaligen Premierminister Zhou Enlai erkannt, der 1956 den ersten Plan für "Langfristige Entwicklung in Wissenschaft und Forschung" erarbeiten ließ. Auch die dafür notwendige Infrastruktur wurde mit der Gründung des Institute of Scientific and Technical Information of China (ISTIC) im selben Jahr geschaffen.

In der ersten Phase fokussierte sich das ISTIC auf Nuklearwaffenforschung, die Entwicklung des Satellitenprogramms und die damals neue Computertechnologie. Der erste große Schritt in Richtung Internationalisierung folgte dann 1979 mit einem von Deng Xiaoping mit den USA ausgehandelten Pakt für wissenschaftliche Kooperationen, der Zugang zu den besten Forschungseinrichtungen wichtiger US-Unternehmen und Universitäten ermöglichte. Und das System wuchs schnell: 1985 waren bereits 400 Institutionen, 35 davon den Ministerien zugeordnet, mit mehr als 25.000 Mitarbeitern beschäftigt.

Dass das System heute sowohl von militärischen wie auch von zivilen Einrichtungen getragen wird, ist laut dem früheren Leiter des ISTIC, He Defang, beabsichtigt. Der Einfluss ist dabei kaum zu überschätzen: Das Military Science Information Research Center, das neben der Chinesischen Akademie der Wissenschaften oder der Patentdokumentationsbehörde zu den wichtigsten Einrichtungen in diesem Bereich gehört, hat direkten Zugang zur Zentralen Militärkommission der KP - dem wichtigsten verteidigungspolitischen Entscheidungsgremium des Landes.

Digitale Datensammler

Ein eher unauffälliger Bereich ist Chinas Bestreben, Zugang zu sensiblen Daten über globale Warenströme, westliche Logistikunternehmen und Hafeninfrastrukturen zu erlangen. Die vom chinesischen Transportministerium seit 2007 entwickelte Logistik-Plattform Logink bietet verschiedene Dienstleistungen des globalen Logistikmanagements an, vom Austausch von Daten und Dokumenten bis hin zur Abwicklung von Zollformalitäten. Seit 2014, einem Jahr nach Veröffentlichung der Strategie der "Neuen Seidenstraße", expandiert die Plattform international mit Unternehmen wie der Reederei Cosco, dem Logistikgiganten China Merchants Group, dem Hafenbetreiber China Merchants Port Holding bis hin zu Alibabas Logistikarm Cainiao. Aktuell bestehen Verträge mit 24 Hafenbetreibern außerhalb des Landes, davon neun in Europa.

Ein zweites Beispiel ist die 2009 gegründete Global Tone Communications Technology Company (GTCOM), das über den Mutterkonzern direkt der Propagandaabteilung der Kommunistischen Partei Chinas unterstellt. GTCOM ist ein Datenanalyseunternehmen, das enorm große Datenmengen sammelt, analysiert und für digitale Plattformen und Analysetools staatlicher Einrichtungen bereitstellt. Allein die Medienbeobachtungsplattform InsiderSoft sammelt nach eigenen Angaben 10 Terabyte an Daten pro Tag. YeeSight bietet neben KI-geführter Sprachauswertung, Analysetechniken wie Datamining und Semantik-Analysen, die ebenfalls zur Medienbeobachtung verwendet werden können. Wie nahe GTCOM dem Sicherheitsapparat steht, zeigt sich durch das von ihm betriebene Forschungszentrum. Das "2020 Institute" wird von Zhao Tiejun geleitet, der gleichzeitig auch Dekan des Instituts für Computerwissenschaften am Harbin Institute of Technology (HIT) ist. Das HIT ist einer der "Sieben Söhne der Nationalen Verteidigung", also eines der sieben wichtigsten Forschungszentren der Armee.

Analysen des australischen Forschungszentrums für Strategie und Politik zufolge gibt es auch Verbindungen nach Österreich: Ein Institut der Universität Wien hat 2017 einen Forschungsverbund zur Entwicklung von Sprachübersetzungstechnologie unterzeichnet und die von GTCOM 2018 präsentierte Plattform JoveEye wurde im Forschungsverbund mit dem Austrian Research Institute for Artificial Intelligence entwickelt.