Zum Hauptinhalt springen

Abschottung auch nach der Öffnung

Von WZ-Korrespondent Felix Lill

Politik

Fast drei Jahre lang hat Japan Menschen aus dem Ausland die Einreise verboten. Die strengen Corona-Regeln wurden fallengelassen. Aber nur knapp die Hälfte der Bürger befürwortet das Ende der Grenzschließungen.


Vor einem guten Monat hat Japan seine Außengrenzen wieder für Touristen geöffnet. Fast drei Jahre lang hatte das ostasiatische Land praktisch jeden Kontakt mit der Außenwelt auf ein Minimum reduziert, um inmitten der Pandemie die Inlandsbevölkerung vor allzu hohen Infektionszahlen zu bewahren. Mitte Oktober folgte Japan dann als letzter G7-Staat dem internationalen Trend und ließ diverse Einreisebestimmungen fallen. Seit einem Monat ist wieder alles beim Alten. Zumindest auf den allerersten Blick.

Geht man heute durch die Straßen von Tokio, sind ausländisch aussehende Gesichter keine Besonderheit mehr. Man findet sie in den kleinen Convenience Stores an beinahe jeder Straßenecke, wenn sie zwischen Museumsbesuchen rasch ein Onigiri essen wollen. Auf der riesigen Fußgängerkreuzung in Shibuya im Westen Tokios, wenn sie ein Szeneviertel besuchen. Oder im Ueno Park im Norden, wenn sie unter freiem Himmel die Maske abnehmen, mal kurz zum Durchatmen.

Ökonomisch gesehen kann jetzt ganz Japan durchatmen, dass die Touristen endlich zurück sind. Jahrelang war im ostasiatischen Land, dessen Bevölkerung wegen niedriger Geburtenraten, hoher Lebenserwartung und geringer Migration so schnell altert und schrumpft wie in kaum einem anderen Land, der Tourismus der Boomsektor überhaupt. Vor knapp zehn Jahren, als Tokio das Austragungsrecht für die 2020 geplanten Olympischen Sommerspiele erhielt, hatte die Regierung das Ziel ausgegeben, 40 Millionen Touristen sollten bis 2020 pro Jahr ins Land kommen.

Grenzschließungen kosteten 152 Milliarden Euro

Japan vermarktete sich weltweit als einzigartige, klimatisch und geografisch vielfältige sowie ästhetisch und kulinarisch begeisternde Nation. Trotz des hohen Preisniveaus erschien realistisch, was einst utopisch klang: Von 6,2 Millionen Einreisenden aus dem Ausland im Jahr 2011 stiegen die Besucherzahlen auf 31,9 Millionen im Jahr 2019 - eine Verfünffachung binnen acht Jahren. Nicht nur klassische Tourismushochburgen wie Kyoto und Tokio erlebten einen Hotelboom, sondern auch entlegenere Orte mit Heißquellbädern, beliebten Stränden oder Wanderrouten.

Die 40-Millionen-Marke für das Jahr 2020 schien in Reichweite. Dann kam die Pandemie. Und mit ihr verfiel Japan in einen Reflex, der im Land immer wieder greift, wenn es Probleme größeren Ausmaßes gibt: Man igelt sich ein, schottet sich ab. Kurz nachdem im chinesischen Wuhan das neuartige Coronavirus zu grassieren begonnen hatte, erreichte es auch andere Teile der Welt, darunter Japan. Rasch schloss die Regierung die Staatsgrenzen.

Tatsächlich ist die Corona-Strategie des ostasiatischen Landes insofern effektiv gewesen, dass es relativ wenige Infektions- und Todesfälle gegeben hat, wenngleich wenig getestet worden ist. Zugleich wurde mit der radikalen Grenzschließung der Fremdenverkehr, der bis dahin als Wachstumsmotor für die kommenden Jahre gefördert worden war, jäh abgewürgt. Die Olympischen Spiele, die den Höhepunkt des Tourismusbooms darstellen sollten, fanden ein Jahr später unter Ausschluss der Welt statt. Stadien und Hotels, die hierfür gebaut worden waren, blieben leer.

Die Kosten der Grenzschließungen sind immens gewesen. Eine Analyse von Noriko Yagasaki, Professorin für Globale Sozialwissenschaften an der Christlichen Frauenuniversität Tokio und Expertin für Tourismus, hat die entgangenen Erlöse auf 22 Billionen Yen (rund 152 Milliarden Euro) hochgerechnet - rund drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Neben der Gastronomiebranche hat auch Yagasaki immer wieder eine Lockerung der Einreisebestimmungen gefordert.

Aber jetzt, wo die Hürden endlich gefallen sind: Ist Japan überhaupt bereit für den Ansturm aus dem Ausland? Von den vielen Touristen, die die Hotels schon jetzt wieder bis aufs letzte Zimmer füllen, ist viel Begeisterung zu vernehmen. Doch immer wieder hört man auch von Anekdoten, in denen sich Heimische schnell einen Schritt distanzieren, wenn sie eine fremd aussehende Person sehen. Cafés fordern extra auf Englisch dazu auf, die Gäste - die für die Einreise noch immer dreifach geimpft oder negativ getestet sein müssen - mögen die Maske aufbehalten.

Impfquotebei 83 Prozent

Die Impfquote in Japan beträgt mittlerweile 83 Prozent. Wer sich vor Covid-19 schützen wollte, konnte dies weitgehend tun. Dennoch ist die japanische Gesellschaft skeptisch gegenüber den jüngsten Lockerungen. Eine Umfrage der Tageszeitung "Mainichi Shimbun", dass nur knapp die Hälfte der Menschen das Ende der Grenzschließungen befürwortet. Vor allem ältere Menschen, die in Japan einen hohen Anteil der Bevölkerung ausmachen, halten den Schritt für verfrüht.

Fragt man Koichi Nakano zu solchen Ergebnissen, muss er milde lächeln. "Corona hat in Japan schnell als Bedrohung von außen gegolten", sagt der Politikprofessor der Sophia Universität in Tokio. "Auch hat die Regierung Klischees bedient, nach denen Ausländer Gefahren darstellen, weil sie das Virus ins Land bringen." Eine ohnehin latente Skepsis gegenüber Fremden sei auf diese Weise bekräftigt worden. "Auch an der Universität machen wir uns jetzt Sorgen, dass Japan durch seine langen Grenzschließungen seinen guten Ruf verspielt hat."

Abschottung wie vom17. bis zum 19. Jahrhundert

Kritiker der Regierung, zu denen auch Koichi Nakano zählt, haben die strenge Grenzpolitik in der Pandemie wiederholt mit der Edo-Ära verglichen: Vom frühen 17. bis zum späten 19. Jahrhundert verbot Japans Regierung fast jeden Kontakt mit der Außenwelt. Konservative loben die Phase oft als Blütezeit national-japanischer Kultur, Progressive eher als eine Art von Stillstand, da nur ein sehr spärlicher und streng kontrollierter Austausch mit der Welt stattfand. Als die Edo-Ära endete, begann in Japan ein intensiver sozialer Umbruch mit Modernisierungen diverser Lebensbereiche.

Könnte das Ende der Corona-Abschottung für ähnlichen frischen Wind sorgen, den eigentlich ja schon die Olympischen Spiele bringen sollten? Koichi Nakano ist skeptisch: "Wir haben noch einen weiten Weg vor uns, wenn es um Offenheit geht. Es ist schade, dass auch Olympia den versprochenen Austausch nicht gebracht hat." Tatsächlich ist Japans Gesellschaft, die sich bis dahin in einem jahrelangen sozialen Öffnungsprozess befunden hatte, mit der Pandemie eher ängstlicher, verschlossener geworden.