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Seismograf der Geopolitik

Von Thomas Seifert aus Seoul (Text und Fotos)

Politik

Besuch in Korea: Nirgendwo sonst ist die wachsende Rivalität zwischen China und den USA stärker zu spüren.


Korea ist wie ein politischer Seismograf in Ostasien, jeder Tremor, der von der sich verschiebenden geopolitischen Plattentektonik ausgeht, lässt die Nadel ausschlagen und ist auf der Halbinsel stärker als irgendwo sonst wahrnehmbar. Wenn Nordkorea wieder einmal Raketen aufsteigen lässt, erregt das in Brüssel oder Washington Besorgnis, in Seoul muss man befürchten, dass Südkorea eines Tages das Ziel jener Raketen sein könnte, die Nordkoreas Diktator Kim Jong-un ohne Unterlass testen und weiterentwickeln lässt.

Derzeit zittert die Nadel dieses Seismografen wieder, erst am Montag feuerte Nordkorea eine Artilleriebarrage Richtung Süden, ein Warnschuss, weil in Südkorea Militärmanöver abgehalten werden - und wohl auch als explosiver Protest gegen die weitgehend symbolischen Sanktionen gedacht, die von Washington, Tokio und Seoul erst vor ein paar Tagen gegen nordkoreanische Funktionäre und Institutionen verhängt worden waren.

Freilich: Es geht im Konflikt mit Nordkorea um weit mehr als die Rivalität zwischen dem demokratischen Süden und der Diktatur im Norden und den seit den 1950er Jahren eingefrorenen Konflikt. Es geht auch um die Systemkonkurrenz zwischen dem Unterstützer Pjöngjangs China einerseits und dem "Westen" andererseits. China möchte einen Kollaps des nordkoreanischen Regimes von Kim Jong-un um jeden Preis verhindern, weil es befürchtet, dann eine gemeinsame Land Grenze mit einer prowestlichen Nation zu teilen. Die USA wiederum sind besorgt, nach einer Wiedervereinigung aus Korea abziehen zu müssen und damit einen ihrer wichtigsten Stützpunkte zu verlieren.

Kommendes Jahr jährt sich die Unterzeichnung des Waffenstillstandsabkommens zwischen Nord- und Südkorea zum 50. Mal. Rund fünf Millionen Menschen kamen in diesem Krieg, der von 1950 bis 1953 tobte, ums Leben, Korea war verwüstet und das Land entlang des 38. Breitengrads geteilt. Bis heute ist Korea vom Krieg traumatisiert: etwa der 92-jährige Yoo Seoung-Seok. Er erscheint in Uniform samt Ordensspangen vor einer Gruppe Journalisten in Seoul, steht auf, salutiert zackig, nimmt wieder Platz und beginnt zu erzählen. Dass er bei der Schlacht von Masan im August und September 1950, bei der Tausende ums Leben kamen, als Soldat in einer Nachrichtenabteilung gedient hat. Dass er als 20-jähriger Studenten-Soldat in der Nachrichtenabteilung tätig war, kurzzeitig in nordkoreanische Gefangenschaft geraten ist, aus der er aber fliehen konnte.

Der Appell des Veteranen

Dem 92-jährigen liegt eine Botschaft am Herzen: "Koreaner kämpften gegen Koreaner, der Überfall Nordkoreas hat damals alle völlig überrascht, wir waren völlig unvorbereitet, beinahe wäre Nordkorea siegreich gewesen. Als Veteran lautet mein Appell: Nie wieder Krieg." Im Krieg habe er gesehen, wie Mütter ihre Kinder im Chaos der Flüchtlingstrecks verloren haben, wie Kriegsopfer nur behelfsmäßig verscharrt werden konnten.

Ob er noch an die Wiedervereinigung glaubt? "Absolut. Die beiden Koreas müssen geeint werden. Das ist unser aller Traum. Aber sehen Sie, ich habe heute ein Alter erreicht, bei dem ich nicht mehr glaube, diesen Tag erleben zu dürfen. Leider."

Die aus Nordkorea stammende Youtuberin Kang Na-Ra träumt ebenfalls dem Traum von der Wiedervereinigung. Sie hat 353.000 Abonnenten auf dem Internet-Videokanal, in ihren Videos erzählt sie vom Leben einer Nordkoreanerin in Südkorea. Kang Na-Ras Biografie ist wie aus einem Roman: Sie kann nach China, fliehen, verliebt sich dort via Online-Plattform in einen südkoreanischen Soldaten und übersiedelt nach Korea. In Hanawon, einer Institution für nordkoreanische Überläufer, wird sie das Leben in Südkorea vorbereitet. "Wenn ich mit Gleichaltrigen plauderte, sagten die, sie könnten mich glatt für eine 60-jährige halten, denn das sei das mentale Alter, das aus meinem Gesagten durchschimmere", sagt Kang Na-Ras. Nun lebt sie nahe dem koreanischen Eisernen Vorhang, der die beiden Koreas trennt.

Nach dem Mauerfall und der deutschen Wiedervereinigung 1989 und 1990 keimte in Korea auch die Hoffnung auf eine Wiedervereinigung auf, die Sonnenscheinpolitik progressiver Regierungen suchte die Aussöhnung mit Pjöngjang.

Doch das politische Klima in Seoul hat sich verändert und die geopolitische Großwetterlage ist geprägt von der schärfer werdenden Großmächte-Rivalität zwischen den USA und China. Der Traum von einer koreanischen Wiedervereinigung rückt derzeit immer mehr in weite Ferne.

Zu dieser Erkenntnis kommt man auch im Sejong-Institut, einer am Rande eines Wäldchens in den südlichen Vororten von Seoul gelegenen Denkfabrik, die zu Fragen der Nationalen Sicherheit, Wiedervereinigung der beiden Koreas und internationalen Beziehungen forscht. Jae-Hung Chung ist China-Experte beim Sejong Institute, er analysiert die derzeitige Lage so: "Der Krieg in der Ukraine markiert einen Zeitenwandel. Aus unserer Perspektive sehen wir in Zukunft eine Rivalität zwischen kontinentalen Mächten - wie Russland und China - und der maritimen Macht USA."

Koreas Sorge

Was Jae-Hung Chung sagt, klingt wie eine Folge aus "Game of Thrones": Die Mächte der Erde versus die Mächte des Wassers.

Für Korea ist diese Perspektive ein Grund zur Sorge: Die koreanische Wirtschaft sei eng mit der chinesischen Wirtschaft verknüpft, doch gleichzeitig sei Korea Teil des von den USA dominierten Sicherheitssystems im Pazifik, sagt Sang Hyun Lee, Präsident des Sejong Instituts. "Die Schwächung der Kooperation der geopolitischen Akteure wegen der Pandemie bedeutet, dass jede Macht nur mehr an die eigenen Interessen denkt und die Interessen der anderen immer mehr ignoriert. Eine sehr gefährliche Situation."

Hinter Yoo Seoung-Seok ist eine große, pazifikständische Weltkarte aufgehängt. Im Fokus dieser Darstellung befindet sich nicht Europa, wie man das aus Schulatlanten kennt, sondern der pazifische Raum. Europa liegt auf dieser Karte weit im Westen, die USA im Osten. 9.700 Kilometer sind es von Shanghai nach San Francisco, nach Wien sind es 8.380 Kilometer. Grund genug, dass die Europäer aufmerksamer Richtung Ostasien blicken sollten, meint Yoo Seoung-Seok.