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"Wir haben hier nur noch Zombiebanken"

Von WZ-Korrespondentin Birgit Svensson

Politik
Erboste Kontoinhaber, die nicht an ihr Geld gelangen können, protestieren in der Nähe der Zentralbank.
© Reuters / Aziz Taher

Politische und wirtschaftliche Misere, Korruption und Proteste: Der Libanon ist zum Armenhaus geworden.


Wir haben aufgegeben", sagt Alexandre mit leeren Augen. "Wir haben keine Hoffnung mehr, dass sich in absehbarer Zeit irgendetwas in diesem Land zum Guten wenden wird." Der 24-jährige Libanese sitzt im Kreis seiner Freunde im Büchercafé Barzakh in Beiruts berühmter Einkaufsstraße Hamra. Oder besser gesagt: ehemals berühmter Straße. Denn die Sterne, die dort ins Fußgängerpflaster eingelassen sind und an den Sunset Boulevard in Los Angeles erinnern, sind beschämend verblasst, wie das ganze Land.

Libanon, die Schweiz des Nahen Ostens, ist zum Armenhaus geworden. Das kleine Mädchen, das an der Tür zur Treppe sitzt, die zum Barzakh-Café in die erste Etage führt, bettelt nicht um Geld oder Schokolade wie sonst oft Kinder im Nahen Osten. Amira hat Hunger und möchte etwas zu essen. "Die Menschen verarmen immer mehr", merkt Alexandres Freund Omar an: "Und niemand tut etwas dagegen." Eine Frau sitzt auch in der Runde. Sie ist 22 Jahre alt und war mittendrin in der Protestbewegung, als diese 2019 tausende Menschen auf die Straßen Beiruts trieb, Hunderttausende im ganzen Land. "Wir wollten Schluss machen mit der Korruption, mit der politischen Mafia hier, demonstrierten für eine faire Chance im Leben. Jetzt ist alles noch viel schlimmer."

Wie schlimm es ist im Libanon, war an Weihnachten zu erfahren. Nicht einmal eine Stunde Stadtstrom gab es über die Feiertage, wie sonst üblich. Nichts. Und das nicht, wie in der Ukraine, weil Krieg herrscht. Generatoren haben das spärliche Licht geliefert und die kleinen Heizkörper laufen lassen, die die Menschen vor Kälte und Feuchtigkeit schützten. Für sechs Ampere sind zwischen 150 und 180 US-Dollar im Monat zu zahlen - ein Durchschnittslohn. Die angekündigten dreihundert US-Dollar, die man von der Bank abheben könnte für Weihnachten, wurden auf 200 gekürzt.

Konten gesperrt

Trotzdem bildeten sich lange Schlangen vor den Bankomaten. Dieses Geld war nicht etwa ein Weihnachtsgeschenk der Regierung für ihre gebeutelten Bürger. Nein, es ist deren Geld, das auf den Konten der Menschen liegt, diesen gehört und seit Monaten gesperrt ist.

Die Banken sind geschlossen. Manche haben Betonmauern und Stacheldraht um ihre Gebäude gezogen, damit aufgebrachte Bürger sie nicht mehr stürmen können, wie vor zwei Monaten geschehen. Damals gab es Banküberfälle, die nichts anderes zur Forderung hatten, als dass die Kontoinhaber ihre Guthaben abheben wollten, was ihnen die Banken verwehrten. Und um die Misere komplett sichtbar zu machen, wurde am Tag vor Heiligabend bekannt, dass die Geliebte des Gouverneurs der libanesischen Zentralbank, des 72-jährigen Riad Salameh, zwischen 2019, als die Wirtschaftskrise im Libanon begann, und 2022 insgesamt 19 Milliarden US-Dollar aus dem Land auf Konten in Europa geschafft, drei teure Immobilien in Beirut erworben und ein monatliches Salär von 25.000 Dollar bezogen haben soll. Wie die libanesische Tageszeitung "Al Akhbar" inzwischen berichtete, hat ein Gericht in Beirut nun das Vermögen der 35-jährigen Stephanie Saliba, einer prominenten Schauspielerin und Fernsehmoderatorin, eingefroren und Untersuchungen gegen sie eingeleitet. Im Café Barzakh indes sind sie sich einig, dass der mächtige Protegé der Frau Mittel und Wege finden wird, damit seine junge Freundin unbeschadet aus der Affäre herauskommt.

"Der Staat ist pleite, und die Verlierer sind all diejenigen, die in seinem Dienst arbeiten." Mohammed Nasser ist Professor an der libanesischen Universität in Beirut und lehrt medizinische Physik. Vor 2019 ging es ihm gut. Er verdiente 4.600 US-Dollar im Monat, konnte seinen ältesten Sohn auf die deutsche Schule schicken und für ein Haus sparen. 60.000 US-Dollar hatte er bei der Bank angelegt. Jetzt bekommt er 152 US-Dollar Monatslohn, das Ersparte ist eingefroren, und seinen Sohn musste er aus der Schule nehmen, weil er das Schulgeld nicht mehr bezahlen konnte.

Lira im freien Fall

Nasser ist nur ein Beispiel unter vielen. Lehrern, Ärzten, Richtern, Krankenschwestern, Pflegekräften und vielen anderen geht es ähnlich. Schätzungen ergeben, dass inzwischen mehr als 300.000 Libanesen das Land verlassen haben, um woanders zu arbeiten und damit ihre Familien zu unterstützen, weil die kein Auskommen mehr finden. Auch Mohammed ist bereit, jeden Job im Ausland anzunehmen, um nur über die Runden zu kommen. Denn alle in Beirut befürchten, dass ihre Währung noch mehr an Wert verlieren wird. Seit Monaten ist die Lira im freien Fall.

Diese Krise sei besonders tief greifend, erklärt Kristof Kleemann, Leiter der Friedrich-Naumann-Stiftung in Beirut. Inflation, Staatsschulden, Verfall der Wirtschaftsleistung - alles auf Höchststand. "Wir haben hier nur noch Zombiebanken", konstatiert Kleemann: "Das Banken- und Finanzsystem ist vollständig zusammengebrochen." Seit zwei Jahren verhandle der Internationale Währungsfonds (IWF) und schaffe es nicht, irgendwelche Reformen zu vereinbaren. Die Familien der Politiker seien Anteilseigner der Banken und blockierten sich gegenseitig.

Die Proteste und der Sturz der Regierung 2019 hätten das marode System ans Tageslicht gebracht, meint Mohammed Nasser. Kristof Kleemann ist gerade in dieser Zeit nach Beirut gekommen und hat beobachtet, wie die reichen Golfstaaten ihr Geld aus dem Libanon abgezogen und damit den Absturz beschleunigt haben. Der damalige sunnitische Premier, Saad Hariri, hatte angefangen, mit der schiitischen Hisbollah zusammenzuarbeiten. Das gefiel vor allem Saudi-Arabien nicht. "Aber das war es nicht allein", sagt der Mitarbeiter der deutschen FDP-nahen Stiftung, die "Für die Freiheit" in ihrem Namen trägt. "Es waren auch Libanesen, die sich in Dubai billiges Geld geliehen und es in ihrer Heimat für hohe Zinsen angelegt haben." Milliarden-Euro-Gewinne flossen ins Ausland.

"Die Explosion im Hafen im August 2020 hat uns dann völlig den Boden unter den Füßen weggezogen", erzählt Nabil Hajjar, an dessen Friseursalontür "Haute Coiffeur" steht. Sieben Dollar kostet Waschen und Schneiden, ein Preis, "den man sich gerade noch so leisten kann im Viertel". Eigentlich sollte Hajjar längst mehr verlangen für seine hohe Kunst des Haareschneidens, denn sein Stromverbrauch ist enorm; der Generator läuft auf Hochtouren. "Doch dann käme niemand mehr", klagt der Mann, der 30 Jahre lang in dem Geschäft arbeitete, das erst seit zwei Jahren ihm gehört. Er habe den Salon von seinem Chef übernommen, als der nicht mehr konnte.

Zunächst habe er geglaubt, es sei ein Erdbeben, als der Getreidespeicher explodierte. Als der zweite Knall dann zu hören war, dachte er, es sei ein Terroranschlag. Hajjars Salon liegt etwa 300 Meter Luftlinie vom Hafen entfernt. Auch heute, mehr als zwei Jahre danach, ragt der Rest des riesigen Speichers wie ein Mahnmal in den Himmel von Beirut, ein Teilstück ist kürzlich noch eingebrochen. Trümmer liegen recht und links und erinnern an die Katastrophe, die mehr als 200 Menschen das Leben kostete.

Der französische Präsident Emmanuel Macron musste vor kurzem eingestehen, dass aus seiner Rettungsaktion für den Libanon damals nichts geworden ist. Die Millionen Euro, die er nach der Explosion bei einer Geberkonferenz sammelte und an Reformen koppelte, haben nicht das bewirkt, was für das Land zwingend wäre. "Die Führung muss weg", befand Macron nun kurz vor Weihnachten.

Verzahnte Elite

Doch das ist leichter gesagt als getan. Wie sehr die politische Elite verzahnt ist und sich stützt, zeigt einmal mehr die Person des Zentralbankgouverneurs. Riad Salameh ist der weltweit am längsten dienende Chef einer Zentralbank. Als nach dem Ende des Bürgerkriegs Rafik Hariri Premierminister wurde, Vater des vorletzten Premiers Saad Hariri und 2005 ermordet, ernannte er Salameh zum Bankgouverneur. Auch heute kann der maronitische Christ sich auf die Rückendeckung der noch immer einflussreichen sunnitischen Familie Hariri verlassen, der unzählige Firmen und Immobilien in Beirut und dem gesamten Libanon gehören.

Doch Salameh hat sein Geflecht seitdem enorm ausgeweitet. Nagib Mikati, der jetzige sunnitische Premier, hält ebenso zu ihm wie der schiitische Parlamentspräsident Nabih Berri, der ebenfalls seit 1992 im Amt ist. Der Patriarch der Maroniten ist ein weiterer Unterstützer Salamehs. Auch wenn im Libanon die politische Macht gemäß eines komplizierten Proporzes zwischen Ethnien und Religionen aufgeteilt ist, so sind die ökonomischen Verhältnisse übergreifend: Sie beruhen auf Vetternwirtschaft.