Susan "Zanny" Minton Beddoes ist die erste Chefredakteurin des "Economist" und eine aufmerksame Beobachterin des Weltgeschehens und der globalen wirtschaftlichen Entwicklung. Die "Wiener Zeitung" konnte am Rande der DLD-Konferenz in München mit ihr sprechen.
"Wiener Zeitung": Die 2020er Jahren gelten schon jetzt als "gefährliche Dekade". Stimmen Sie dem zu?
Zanny Minton Beddoes: Ich würde eher von einer "Era of Upheaval", einer "Ära des Umbruchs" sprechen. 2022 erlebte die Welt drei Riesenschocks: Einen geopolitischen, einen makroökonomischen und einen Energieschock. Drei Schocks, die zweifelsfrei miteinander verwoben sind. Der russische Angriff auf die Ukraine ist nicht nur der größte Landkrieg in Europa seit 1945, sondern auch ein schwerer Schlag für die Nachkriegs-Weltordnung. Wladimir Putin hat einen friedlichen Nachbarn angegriffen und zugleich die Energiewaffe gegen Europa gerichtet. So wurde aus dem geopolitischen Schock nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine ein Energieschock für Europa. Dieser schlug sich am Markt als Preisschock nieder, der jetzt in Windeseile zu einer völligen Transformation des europäischen Energiesystems führt.
Dabei hatte Europa diesen Winter Glück mit dem Wetter...
Oja! Dieser Schock hätte noch viel größer sein können, doch die milden Winter-Temperaturen haben bislang das Schlimmste verhindert. Das darf aber nicht dazu führen, dass man sich zufrieden zurücklehnt. Die EU war der größte Kunde von russischem Gas. Europa musste sich neue Lieferanten suchen, de facto gibt es am internationalen Gasmarkt derzeit noch immer eine riesige Lücke, das muss einem schon klar sein. Aber es war nicht nur das Wetter, das die Gasmärkte beruhigte: Im Jahr 2022 war China immer wieder im Lockdown - die Zero-Covid-Maßnahmen haben die chinesische Nachfrage nach Erdgas gedämpft. Doch Chinas Wirtschaft öffnet nun im Jahr 2023 rasant. Dieses Wiederhochfahren der chinesischen Wirtschaft wird die Nachfrage nach LNG massiv in die Höhe treiben. Europa muss vorbereitet sein: Sollte der Sommer sehr heiß werden und damit der Stromverbrauch stark ansteigen, dann könnten wir um die Jahresmitte wieder ein massives Problem bekommen.
Welche Rolle spielt die hohe Inflation bei all diesen Schocks und Krisen?
Die Preissteigerungen sind nicht nur auf die hohen Energiepreise zurückzuführen. Auch die Stimulus-Maßnahmen - vor allem jene in den USA - haben einen Beitrag zur Inflation geleistet, mehr als Fed-Chairman Jerome Powell gedacht hat. Freilich: Die von mir angesprochenen Schocks sind nicht nur die Turbulenzen eines Jahres, sondern da haben sich Entwicklungen mehrerer Jahre aufgestaut, die sich nun entladen haben.
Wie verändern diese Schocks und Krisen unsere Welt?
Der Versuch einer Interpretation ist alles andere als einfach. Denn es wäre zu simpel zu sagen, wir leben nun in einer Ära der De-Globalisierung und damit ist alles gesagt. Für eine saubere Prognose sind einfach zu viele Dinge in Bewegung. Bevor man sich also an die Vorhersage der Zukunft heranwagt, gilt es, zuerst die Frage zu klären: Wie sind wir überhaupt in der Gegenwart angelangt? Die Antwort: In den vergangenen 70 Jahren waren die USA die Garanten unserer Weltordnung. Die vorherrschende Mentalität war: Freihandel ist für alle. Investitionen. Wirtschaftsöffnung.

Die Wall Street in New York ist ein Symbol der Globalisierung. Aber derzeit "gibt es einen politischen Backlash gegen Globalisierung und Freihandel", sagt Zanny Minton Beddoes.
- © apa / afp / Getty Images / Spencer PlattUnd jetzt?
Jetzt gibt es einen politischen Backlash gegen Globalisierung und Freihandel. Wir erleben nicht nur geopolitischen Veränderungen, sondern auch eine Veränderung des Weltwirtschaftssystems. Die alten Schlagwörter sind wieder en vogue: Subventionen, Industriepolitik, Inlandsproduktion. Die Narrativ, das wir heute hören: Fokus auf Resilienz und auf nationale Sicherheit auf Kosten der Effizienz. Plus: Dekarbonisierung. Wenn man ans Klima denkt, dann ist der Ausstieg aus der fossilen Wirtschaft ja unausweichlich. Aber nachdem niemand CO2-Steuern einheben will, behelfen sich die Regierungen eben mit Anreizen und Subventionen.
Ukraine, Taiwan, die koreanische Halbinsel - das sind die heutigen und potenziell künftigen Konfliktherde. Ist es nicht deprimierend, wenn man daran denkt, dass es für keinen dieser Konflikte eine Lösung zu geben scheint?
Wer sagt, dass eine Katastrophe auf die nächste folgen muss? Wir denken stets, dass die Zeit, in der wir gerade leben, immer die gefährlichste sei. Freilich: In den 1990ern war die Welt noch in Ordnung. Das war eine Zeit von ungeheurem Optimismus, alle Trendlinien deuteten in die richtige Richtung. Das Ende des Kalten Krieges, Europa wuchs wieder zusammen, mehr Freiheit, mehr Wohlstand und eine Aussicht auf einen stabilen Frieden.
Doch das dauerte nicht lange, es kam rasch wieder eine Zeit der Ungewissheit.
Die Terroranschläge des 11. September 2001, Afghanistan, der Krieg im Irak 2003. Aber auch danach gab es immer wieder Zeiten, die sich gefährlich und ungewiss angefühlt haben: Etwa die Zeit der Finanzkrise 2008. Nach dem Zusammenbruch der US-Investmentbank Lehman Brothers schien ein katastrophaler Kollaps des globalen Kapitalismus nicht unmöglich. Bestimmte Elemente des Weltfinanzsystems haben sich damals als sehr fragil herausgestellt.
Jetzt ist wieder eine Zeit des wirtschaftlichen Umbruchs.
Der ökonomische Rahmen verändert sich: Wir sind in einer neuen Ära höherer Inflation angelangt. Das ist alles ein wenig Retro, jüngere Menschen haben gar keine Erinnerung mehr an den ähnlichen Zeitraum in den frühen 1970er Jahren, die älteren erinnern sich aber noch. Die endete erst jäh, als der damalige Fed-Chairman Paul Volcker die Inflation mit dem Drehen an der Zinsschraube stoppte. Zu dem veränderten Inflationsumfeld kommt der radikale Wandel des globalen Energiesystems. Alle haben gewusst, dass wir diesen Wandel ohnehin schaffen müssen, aber nun bemerken wir, wie komplex, teuer und schwierig dieser Prozess ist.
Wie groß sind Ihre Sorgen in Bezug auf die geopolitische Lage?
Ich finde es beunruhigend, dass der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine nicht einmal das schlimmste ist, was uns passieren konnte. Denn es lauern weitere geopolitische Krisen. Entscheidend ist die Frage, wie sich das Verhältnis zwischen China und den USA weiterentwickelt.

Ukrainische Soldaten bei einer Übung. "Wir haben noch gar nicht realisiert, wie stark sich die Sicherheitslage Europas gewandelt hat."
- © apa / afp / Genya SavilovTaiwan ist dabei wohl einer der gefährlichsten Konfliktherde.
Chinas Präsident Xi Jinping scheint entschlossen, in dieser Frage nicht locker zu lassen. Chinas Wirtschaft wird sich in den kommenden Monaten erholen, doch was passiert, wenn es danach schwächere Phasen gibt? Könnte es sein, dass Peking dann eines Tages einen härteren Konfrontationskurs gegenüber Taiwan wählt, um von wirtschaftlichen Problemen abzulenken? Oder würde sich Peking in so einem Fall vordringlich den wirtschaftlichen und innenpolitischen Herausforderungen widmen?
Ist die Tatsache, dass sich die Produktionsstandorte von globalen Schlüsselindustrien wie der von Halbleitern auf der Insel befinden, so etwas wie eine Lebensversicherung für Taiwan?
Ich glaube ja. China und der Rest der Welt sind von der Chip-Produktion in Taiwan abhängig. Doch all das ändert nichts daran, dass Peking der Ansicht ist, dass Taiwan integraler Bestandteil der Volksrepublik China ist.
Was bedeuten die zunehmenden Spannungen zwischen den USA und China für jene Länder, die weiter an guten Beziehungen zur Volksrepublik interessiert sind? Korea ist stark von der chinesischen Volkswirtschaft abhängig, viele europäische Volkswirtschaften sind eng mit jener der Volksrepublik China verflochten.
Die US Strategie vis-a-vis China: die Vereinigten Staaten versuchen, die technologische Aufholjagd Chinas zu bremsen. Mit Exportkontrollen, aber auch mit Subventionen für US-Unternehmen. Die USA sind der Ansicht, dass sie um jeden Preis ihre technologische Überlegenheit behalten müssen und nutzen dafür alle ihnen zur Verfügung stehenden Instrumente. In Washington findet man zudem, dass alle Verbündeten bei diesen Maßnahmen mitziehen sollen.
Wird der Rest der Welt die US-Perspektive - "Wer nicht für uns ist, ist gegen uns" - übernehmen?
Das ist von Land zu Land unterschiedlich. In Europa gibt es bisher keine einheitliche Antwort auf die amerikanischen Exportkontrollen. Sie werden diskutiert, aber gleichzeitig gibt es großen Ärger über die massiven Subventionen für die US-Industrien. Und da stellt sich durchaus die Frage: Wenn die USA eine Anti-China-Koalition schmieden wollen, warum setzen sie dann auf Protektionismus auch vis-a-vis der Europäischen Union? Das macht es den Europäern, aber auch den Koreanern oder Japanern nicht leicht, auf die US-Linie einzuschwenken. Aber natürlich ist diese Frage auch für die Länder Südostasiens eine große Herausforderung. Dort ist man in großer Sorge davor, sich eines Tages für eine Seite im US-China-Konflikt entscheiden zu müssen. Doch niemand möchte vor diese Wahl gestellt werden, viele Staaten möchten in ihren Beziehungen zu den USA und China lieber einen Mittelweg wählen. Übrigens auch Deutschland. Aber mit dem Ukraine-Krieg wurde die Transatlantische Achse gestärkt, Europa nimmt seither auf US-Interessen stärker Rücksicht.
Wie kann verhindert werden, dass die Beziehungen zwischen China und den USA auf einen Konflikt hinauslaufen?
Es gibt Bereiche, in denen Zusammenarbeit zwischen China und den USA möglich ist, etwa beim Thema Klimawandel. Aber es sollte nicht überraschen, dass die USA verhindern wollen, dass China in bestimmten Schlüsseltechnologien der Zukunft eine dominierende Position erreichen kann. Die Herausforderung für beide Seiten ist nun, den Bereich der harten, antagonistischen Konkurrenz möglichst eng zu halten und den – wenn man so will – normalen Handel nicht zu behindern. Aber: Den USA geht es auch um eine Reindustrialisierung des Landes. Deutschland hat in den vergangenen Jahrzehnten einen starken industriellen Sektor bewahrt. Die deutsche Industrie ist aber enorm von der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit China abhängig, das Reich der Mitte ist ein äußerst wichtiger Exportmarkt für Deutschland. Berlin will daher den Rahmen einer harten und antagonistischen Konkurrenz zwischen dem Westen und China eng halten. Aber in der Realität ist es sehr schwer, diesen Rahmen abzustecken. Denn die Grenzen zwischen ziviler und militärischer Technologie verschwimmen zusehends, wenn man etwa an Drohnen-Technologie denkt. Ich stelle mir die Frage: Was passiert, wenn man eine globalisierte Welt plötzlich wieder entlang von Machtblöcken zu trennen versucht? Wie viel von dem Wohlstand, der durch die globale Arbeitsteilung und Globalisierung geschaffen wurde, riskiert man dadurch?
Ich halte auch grundsätzlich nichts von der Idee, dass man gesellschaftliche und politische Veränderungen in China damit erreichen kann, indem man dafür sorgt, dass der Fortschritt im Reich der Mitte verlangsamt wird. Wenn es nach mir ginge, dann sollten die Vereinigten Staaten mehr Zutrauen in die eigenen Stärken haben, in ihr Bildungssystem, die Offenheit ihrer Wirtschaft, in die Dynamik ihrer Unternehmen, in die Attraktivität der eigenen Gesellschaft.
Hat sie das Ende der chinesischen Null-Covid-Politik überrascht?
Ja. Nachdem die chinesische Kommunistische Partei der Bevölkerung jahrelang eingebläut hat, dass Covid-19 eine unglaublich gefährliche Sache ist und der Westen bei der Bewältigung dieses Problems völlig versagt hat, hat man nun über Nacht die Restriktionen aufgehoben und die Grenzen geöffnet. Die Folge: eine besorgniserregende Covid-Welle im ganzen Land. Andererseits halte ich einen Wirtschaftsboom im zweiten Halbjahr in China für durchaus denkbar. Die Bürgerinnen und Bürger Chinas haben eine Menge von Ersparnissen auf der hohen Kante und es gibt einen Nachfragestau. Die Frage ist nun: wie wird dieser chinesische Post-Covid-Boom die globale Weltwirtschaft beeinflussen? Wird es einen Tourismus-Boom für Chinas Nachbarn geben? Und was passiert mit den Rohstoffpreisen, wenn die Nachfrage nach Energie, Erzen oder Holz explodiert?
Sie haben Russlands Krieg gegen die Ukraine mehrfach angesprochen. Wie sehen Sie die Zukunft von Russland?
Der verstorbene US-Senator John McCain hat einmal gesagt, Russland sei eine als Land getarnte Tankstelle. Das stimmt heute mehr denn je. Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine ist für die Ukraine eine Tragödie, aber auch für Russland eine Katastrophe. Hunderttausende von kompetenten Menschen haben Russland den Rücken gekehrt. Sie haben mit den Füßen über Russlands Zukunft abgestimmt. Russland ist heute ein Rogue State. Selbst wenn die Waffen eines Tages schweigen sollten – solange Wladimir Putin an der Macht ist, wird es keine Rückkehr zu einem Status Quo geben können. Russland wird auch nach einem Waffenstillstand ein Paria-Staat bleiben. Die Sanktionen werden selbst nach einem Waffenstillstand nicht über Nacht verschwinden, also wird Russland gar nichts anders übrig bleiben, als sich weiter als Gaslieferant für China anzudienen. Was ich an der jüngsten Entwicklung alarmierend finde: Der neue Rogue State Russland nähert sich dem traditionellen Rogue State Iran immer mehr an. Diese Achse ist durchaus bedrohlich.
Russland ist eine absteigende, ehemalige Weltmacht. Man klammert sich an frühere legendäre Erfolge der Sowjetunion: Man erinnert an den ersten Satelliten Sputnik, der im Oktober 1957 die Erdumlaufbahn erreicht hat und feiert heute noch Juri Alexejewitsch Gagarin, der vor fast 62 Jahren der erste Mensch im Weltraum war. Heute ist Russland technologisch abgeschlagen, das Land hat außer Rohstoffen und Energie nicht allzu viel zu bieten. Die Gesellschaft ist überaltert und hat den Anschluss an den Westen verpasst.
Die Geschichte Russlands ist eine Kultur der immer wiederkehrenden Gewalt. Revolutionen, Umstürze. Mich treibt die Frage um: Was würde es brauchen, damit Russland eine friedliche, stabile europäische Macht wird?
Mindestens genauso interessant: Was wird aus der Ukraine, mit seinen 40 Millionen Einwohnern, einem Land mit der derzeit wohl bestausgebildeten Armee und einer Gesellschaft, die durch den Krieg zur Opferbereitschaft, Flexibilität und Resilienz gezwungen ist? Dieses Land an der Ostflanke Europas ist zwar auf dem Pfad nach Europa, aber es wird ein langer, steiniger und harter Weg. Die Ukraine wird für lange Zeit von westlichen Hilfen abhängig sein. Doch wie wird die Integration des Landes voranschreiten? Das ist heute noch schwer zu sagen. Aber dieser Prozess wird nicht nur die Ukraine verändern, sondern auch Europa.
Die Ukraine steht unglaublich unter Druck: Ein schier übermächtiger Außenfeind Russland, Millionen von Menschen, die das Land verlassen haben, die Wirtschaft der Ukraine steht am Rande des Kollaps.
Es gibt da diesen nicht ganz passenden, aber dennoch treffenden Vergleich, in dem von einer Israelisierung der Ukraine die Rede ist, von einem Land, das unter Druck steht und dadurch innovativ und widerstandsfähig sein muss. Aber die Ukraine ist viel, viel größer als Israel. Noch vor ein paar Jahren hat man, wenn es um die Ukraine ging, auf die Korruption im Land fokussiert. Heute ist die Rede vom Opfermut der Ukrainer und ihrer Widerstandsfähigkeit. In diesem Krieg hat sich das Land einen Platz im Konzert europäische Mächte erobert. Wir haben es heute mit einer anderen Ukraine zu tun als vor dem russischen Angriff im Jahr 2022, vor dem Maidan 2014. Und das verändert die gesamte geostrategische Situation in dieser Region – ich denke, wir haben noch gar nicht realisiert, wie stark sich die Sicherheitslage Europas gewandelt hat. Für mich steht fest: Die Ukraine wird bei den sicherheitspolitischen Debatten in Europa hinkünftig ein Wörtchen mitzureden haben. Die Ukraine hat die Gesetze des Krieges umgeschrieben, von Open Source Intelligence – OSINT – bis zur Agilität ihre Armee. Die Natur des Krieges ist heute eine andere.
Wie werden die Flüchtlingsbewegungen und die ständige Bedrohung der Ostukraine das Land verändern?
Es werden nicht alle geflüchteten in der Ukraine zurückkehren. Schon jetzt hat sich das Schwergewicht der Ukraine in den Westen verlagert.
Was bedeutet dieser Krieg für Europa?
Und es gibt so viel Unsicherheit darüber, welche Dinge sich wie verändert werden. Was man aber sagen kann: die Welt wird nicht wieder zur Nachkriegsordnung, wie sie nach 1945 Bestand hatte, zurückkehren. Das Sicherheitsgefühl in Europa hat sich definitiv verändert.