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Putins atomare Drohung vor dem Jahrestag

Politik

Russlands Präsident macht den Westen "voll verantwortlich" für den Krieg in der Ukraine. Und zückt die nukleare Karte.


Joe Biden hatte mit seinem Überraschungsbesuch in der Ukraine am Montag die Aufmerksamkeit auf seiner Seite. Am Dienstag sprach er in Polen, dessen Präsident Andrzej Duda stellte erleichtert fest: "Amerika kann die Weltordnung aufrechterhalten." Diese Ordnung möchte Wladimir Putin ins Wanken bringen. Er sieht sein Land auf Augenhöhe mit den technologisch und wirtschaftlich überlegenen USA. Weltmachtstatus besitzt Russland aber bei Atomwaffen. Und der in der früheren DDR stationierte Agent Putin kennt nur zu gut die Angst in Teilen Europas vor einer nuklearen Eskalation; einst im Kalten Krieg, heute angesichts des russischen Überfalls auf die Ukraine, der sich am Freitag jährt.

In seiner Rede zur Lage der Nation benutzte Putin ein Atom-Abrüstungsabkommen, um eine Drohkulisse zu zeichnen. Russland setze den "New Start"-Vertrag aus, kündigte er an. Eine Ankündigung, die das Außenamt in Moskau eiligst relativierte: Russland werde sich trotz der von Putin verkündeten Aussetzung des New-Start-Vertrags mit den USA weiter an die Begrenzung seines Atomwaffenarsenals im Rahmen des Abkommens halten. "Russland will einen verantwortungsvollen Ansatz beibehalten und wird sich während der Laufzeit des Vertrags weiterhin strikt an die quantitativen Begrenzungen für strategische Offensivwaffen halten", so das russische Außenministerium am Dienstagabend. Der Vertrag gilt bis 2026.

Beim "New Start"-Vertrag geht es um strategische Atomwaffen, jene, mit denen sich Russland und die USA gegenseitig und direkt mit großer Sprengkraft beschießen können. 2010 wurde der Vertrag unterzeichnet und trat im darauffolgenden Jahr in Kraft. Vereinbart wurde damals, die Zahl ihrer strategischen Trägersysteme bis 2018 auf maximal je 800 nutzbare Träger zu beschränken und dafür künftig nicht mehr als 1.550 anzurechnende aktive Sprengköpfe vorzuhalten. Mit Amtsantritt von Joe Biden im Jänner 2021 wurde "New Start" um weitere fünf Jahre verlängert. Das Abkommen genießt große Bedeutung, halten doch die beiden Mächte seit Jahrzehnten die mit Abstand größten Nuklearwaffenarsenale der Welt.

Den Schritt zur Aussetzung des Abkommens begründete Putin damit, dass Frankreich und Großbritannien ihre Atomwaffenkapazitäten weiter entwickelten und die Nuklearpotenziale gegen Russland ausrichten würden. Der eigentliche Feind im Moskauer Weltbild sind jedoch die USA. Sollten die Vereinigten Staaten Atombombentest durchführen, würde Russland nachziehen. "Niemand sollte sich gefährlichen Illusionen hingeben, dass die globale strategische Parität zerstört werden kann", erklärte Putin.

Wobei aus Washington derzeit keinerlei Pläne über etwaige Tests bekannt sind. Außenminister Antony Blinken bezeichnete das Aussetzen des Abkommens als "äußerst bedauerlich und unverantwortlich". Aber Putin bedient an dieser Stelle die oftmals von ihm verbreitete These, die USA – und in deren Schlepptau "der Westen" – wollten Russland marginalisieren und den flächengrößten und ethnisch vielfältigen Staat zum Zerfall bringen. "Die westlichen Eliten halten ihr Ziel nicht verborgen: Russland eine strategische Niederlage zuzufügen, das heißt, uns ein für alle Mal zu erledigen", lautete einer von Putins Vorwürfen am Dienstag.

"Recht Russlands, stark zu sein"

Aus diesem Blickwinkel ist der Krieg in der Ukraine – laut Kreml weiterhin eine "militärische Spezialoperation" – ein weiterer Schritt gegen Russland. Ungeachtet der Tatsache, dass russische Truppen vor fast genau einem Jahr im Nachbarland einfielen, behauptet Putin, Russland habe sich bemüht, das Problem im Donbass friedlich zu lösen – in dem acht Jahre zuvor prorussische Separatisten dank Hilfe aus Moskau die zwei Kreml-hörigen "Volksrepubliken" Luhansk und Donezk installierten. Nichtsdestotrotz sagt Putin zum seit 24. Februar 2022 tobenden Krieg in der Ukraine über den Westen: "Sie haben den Krieg begonnen. Wir haben alles getan, um ihn zu stoppen."

Dies ungeachtet der Tatsache, dass Russland in den Monaten vor Kriegsausbruch eine Drohkulisse von zehntausenden Soldaten nahe der ukrainischen Grenze aufbaute. Staatschefs eilten nach Moskau, um eine Verhandlungslösung zu finden. Aber Putin befahl den Überfall auf den Nachbarn. Nun wirft er in Moskau dem Westen vor, er strebe nach "grenzenloser Macht".

Für Russland gelte es hingegen laut Putin, ein historisch "höchstes Recht zu wahren: das Recht Russlands, stark zu sein." Um dieses "Recht" zu legitimieren, hat Putin bereits vor Jahren der Ukraine die Eigenständigkeit abgesprochen. Die Regierung von Präsident Wolodymyr Selenskyj ist in dieser Weltsicht nur ein Vasall: "Das ukrainische Volk selbst ist zur Geisel des Kiewer Regimes und seiner westlichen Herren geworden, die dieses Land politisch, militärisch und wirtschaftlich besetzt haben", sagte Putin.

Dass Putin diese Meinung weitgehend exklusiv in der Staatengemeinschaft vertritt, will die Ukraine am Jahrestag bei der Vollversammlung der Vereinten Nationen erneut unter Beweis stellen. Vor einem Jahr verurteilten 141 Länder den russischen Angriff, an seiner Seite wusste Moskau lediglich das benachbarte Belarus sowie Eritrea, Nordkorea und Syrien. Eine klare Mehrheit der Staaten stimmte zudem im November für eine Resolution, wonach Russland für Kriegsverbrechen in der Ukraine zur Rechenschaft gezogen werden soll. Nur 13 Staaten stimmten dagegen – unter ihnen China.

Die Volksrepublik kündigte einen Friedensplan für die Ukraine an. Am Dienstag weilte Spitzendiplomat Wang Yi in Moskau. Dort sagte der Sekretär des russischen Nationalen Sicherheitsrates, Nikolai Patruschew, in Putins Sinne, dass beide Staaten gegen den Westen zusammenhalten müssten. Freimütig erklärte Patruschew, China stehe für Russland in seiner Außenpolitik an erster Stelle. Nach dem Bruch mit der EU – mit Ausnahmen wie Ungarns Premier Viktor Orban – ist Moskau auf Unterstützung aus Peking angewiesen. Eine mögliche Gegenleistung machte Patruschew nun deutlich: bedingungsloses Ja zu Chinas Kurs gegenüber Taiwan. (da)