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Sackgasse als ultimatives Ziel

Von Michael Schmölzer

Politik

Netanjahu leitet in Israel die autoritäre Wende ein. Jetzt macht er in Berlin Werbung für seine Sache.


Der Abbau der israelischen Demokratie durch die von Premier Benjamin "Bibi" Netanjahu geführte Rechtsregierung ist nicht aufzuhalten. Dienstag Nacht hat die Knesset mit der Annahme einer "Aufhebungsklausel" die hoch umstrittene Justizreform weiter vorangetrieben.

Die Klausel würde es dem Parlament erlauben, Gesetze auch dann zu verabschieden, wenn diese mit den verfassungsmäßigen Grundgesetzen nicht übereinstimmen. In seiner derzeitigen Form schließt der Entwurf eine rechtliche Überprüfung durch den Obersten Gerichtshof jedenfalls aus. Da Israel keine formale Verfassung hat, kommt dem Gerichtshof eine besonders wichtige Funktion zu.

Zuvor hatte die Knesset einen weiteren Gesetzesentwurf verabschiedet. Demnach werden die Möglichkeiten eingeschränkt, einen amtierenden Ministerpräsidenten für geschäftsunfähig zu erklären. Diese Novelle zielt ganz offensichtlich darauf ab, Netanjahu zu schützen, gegen den ein Prozess wegen Korruption läuft.

Präsident Isaac Herzog hat die Regierung aufgefordert, das Projekt sofort zu stoppen, wütende Demonstranten laufen in Israel seit Wochen dagegen Sturm. Netanjahu lässt sich davon nicht beeindrucken und ist bestrebt, das Projekt im Eilverfahren durchzuziehen.

Diskurs umdefiniert

Die israelisch-deutsche Historikerin Tamar Amar-Dahl hat sich in ihrem jetzt erschienenen Buch "Der Siegeszug des Neozionismus" den Demokratieabbau in Israel näher angesehen und dabei die Person Netanjahu unter die Lupe genommen. Amar-Dahl geht der Frage nach, was diesen Mann, der die Geschicke des Landes länger als jeder andere israelischen Premier dominiert, antreibt und wie er die Widersprüche der israelischen Gesellschaft und der Eliten nutzt, um immer wieder an die Macht zu kommen.

So ist es Netanjahu in den letzten Jahren offenbar gelungen, den Diskurs komplett in seinem Sinn umzudefinieren. Amar-Dahl erklärt den einzigartigen Rechtsruck des Jahres 2022 in Israel so: Den traditionellen politischen Disput zwischen linken und rechten politischen Fraktionen "verschob Netanjahu dahingehend, dass während seiner Regierungszeit der Begriff ‚links‘ (. . .) immer illegitimer, immer ‚gefährlicher‘ für das zionistische Israel wurde". "Links" sei zu einem regelrechten Schimpfwort verkommen, in manchen Kreisen zum Synonym für "Verrat".

Der vorläufige Höhepunkt dieser Entwicklung ist die aktuelle Regierung, die teilweise extremistische und offen rassistische Positionen vertritt. Amar-Dahl verweist in diesem Zusammenhang auf die diesem Phänomen zugrunde liegende politische Dauerkrise in Israel, die den Nährboden für einen "skrupellosen starken Mann" bereitet habe.

In der Tat ist Israel chronisch zerstritten; Linke und Rechte, Säkulare und Orthodoxe, Juden und Araber, Israelis und Palästinenser stehen einander verständnislos bis kompromisslos feindselig gegenüber. Netanjahu nutze laut Amar-Dahl die Gräben, verstärke diese bewusst durch eine "Rhetorik der Hetze", treibe das System in eine "nationale und sicherheitspolitische Sackgasse" und verspreche dann, das Land als "starker Führer" aus eben dieser Sackgasse zu manövrieren.

Wobei es Netanjahu in seinen Jahren als Premier immerhin tatsächlich gelang, die Opferzahlen im Nahost-Konflikt vergleichsweise gering zu halten - ein Argument, das viele überzeugte.

Werkzeug der Orthodoxen

An sich hat Netanjahu mit Religion nicht viel am Hut, die religiösen Kräfte Israels hätten in ihm aber den geeigneten Mann erkannt, das säkulare Israel in der gegebenen Form aufzulösen, schreibt Amar-Dahl. Der liberale, säkulare Staat, die Friedenspolitik und der Einfluss des regulierenden Obersten Gerichts sollen nach dem Willen dieser Kräfte zerstört werden.

Netanjahu sei es gelungen, tief sitzende Gefühle der Religiösen, die sich von der herkömmlichen Politik entfernt hätten, zu aktivieren. In letzter Konsequenz wollten viele Religiöse sogar die Auflösung des israelischen Staates.

In der Palästinenserfrage hat sich Netanjahu von der Friedenspolitik seiner Vorgänger komplett verabschiedet und es geschafft, den Konflikt aus dem "politisch-diskursiven Alltag" zu entfernen, wie Amar-Dahl schreibt. Der Premier sei der Ansicht, nur er sei kraft seines enormen Engagements, seiner Stärke und seiner Vision in der Lage, Israel angesichts eigentlich unlösbarer Probleme zu retten. Und als "Retter der jüdischen Nation" mache Netanjahu großen Eindruck auf viele Wähler und schüchtere seine politischen Gegner sein. Gleichzeitig sei es ihm gelungen, seine Art der Deutung im Ausland "intensiv und effektiv zu vermarkten".

So viel steht jedenfalls fest: Im österreichischen ÖVP-Ex-Kanzler Sebastian Kurz hatte er einen überzeugten Bewunderer und Verbündeten.

Die internationale Kritik an Netanjahus Staatsumbau fällt sehr deutlich aus, nicht nur der wichtigste Verbündete, die USA, auch Deutschland hat klare Worte gefunden. Am Mittwoch will der Israeli deshalb in Berlin versuchen, die Wogen zu glätten. Gespräche gibt es mit Kanzler Olaf Scholz und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier.

Die Sicherheitsmaßnahmen für den umstrittenen Gast sind enorm. Für mehrere Orte von Netanjahus Aufenthalt kündigte die Polizei Absperrungen an, denn auch in Berlin wird gegen "Bibi" protestiert.

Buchtipp: Tamar Amar-Dahl: "Der Siegeszug des Neozionismus. Israel im neuen Millennium." Wien 2023, Pro Media-Verlag, 22,00 Euro. ISBN: 978-3-85371-514-7