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Vorboten eines Völkermords?

Von WZ-Korrespondentin Simone Schlindwein

Politik

Knapp 30 Jahre nach dem Genozid in Ruanda sehen sich in der benachbarten Demokratischen Republik Kongo erneut Tutsi als Opfer systematischer Verfolgung.


"Selbst zur Werkstatt zu gehen, kann lebensgefährlich sein", berichtet der Mann am Telefon. Er ist ein Tutsi, der in Kinshasa lebt, der Hauptstadt der Demokratischen Republik Kongo. Sein Name muss geheim bleiben. Er hat Drohungen erhalten, wagt sich kaum aus dem Haus. Denn: "Ich bin sehr groß, ich sehe anders aus." Deswegen hätten ihn die Automechaniker als "Ruander" beschimpft. Ein Mob habe sich zusammengerottet: "Ich bin gerade so davongekommen."

Fast täglich zirkulieren in den sozialen Medien grausige Fotos und Videos aus dem Kongo: verstümmelte Leichen im Gras, gefesselte Männer zusammengepfercht in einem Loch. Auf einem Video liegt ein Mensch nackt auf dem Boden, er wird von einer Meute mit Macheten verstümmelt; auf dem nächsten Video stopft sich einer der Männer Fleisch in den Mund und sagt: "Wir essen die Ruander mit Brot."

Die Grausamkeiten erinnern an den Völkermord in Ruanda 1994, als innerhalb von hundert Tagen rund eine Million Tutsi abgeschlachtet wurden. Die UN-Sonderbeauftragte zur Genozidprävention, Alice Wairimu Nderitu, erklärte Ende des Vorjahres nach einer Kongo-Reise, sie sei "zutiefst beunruhigt". Die aktuelle Gewalt im zweitgrößten Land Afrikas sei ein "Warnsignal".

Aus Sicht des belgischen Menschenrechtsanwalts Bernard Maingain, der Tutsi-Gewaltopfer vertritt, sind radikale Akteure in Kongos Staatsorganen direkt verantwortlich. Er nennt Beispiele von Polizeikommissaren, die zu Massentötungen an Tutsi aufriefen und befördert wurden. Gegen diese hat Maingain Klage eingereicht und warnt, "dass das Risiko nicht nur eines langfristigen Genozids, sondern einer sehr kurzfristigen Explosion von Gewalt sehr, sehr hoch ist". Wenn Kongos Justiz seine Klagen nicht aufnehme, werde er sich an den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag wenden.

Milizen und Rebellen

"Der Völkermord ist schon in vollem Gange", meint David Karambi, Vorsitzender der Tutsi-Gemeinschaft in Goma, der Hauptstadt der Provinz Nord-Kivu. Fast täglich müsse er seine Liste der Attacken aktualisieren, er komme schier nicht hinterher. Erst am Abend zuvor hätten Agenten des Militärgeheimdienstes in Goma eine Bar gestürmt. Kurz davor seien 34 Tutsi verschleppt worden und spurlos verschwunden. "Es geht nicht nur um die reine Zahl von Opfern", erklärt Karambi. "Von all diesen Taten geht die Botschaft aus: ‚Wir wissen wo ihr seid!‘" Ob Restaurants, Bars, Kirchen, Supermärkte - überall dort, wo sich Tutsi gewöhnlich treffen, sei die "Menschenjagd" eröffnet.

Als Verantwortliche sieht auch Karambi Staatsorgane. Aber diese seien "noch nicht bereit, systematische Tötungen selbst durchzuführen". Das täten dafür lokale Milizen. Kongos Regierung rief vergangenes Jahr, als die Tutsi-geführte Rebellenarmee M23 (Bewegung des 23. März) auf Goma vorrückte, die Bevölkerung auf, sich für die Landesverteidigung zu rüsten. Sämtliche lokalen Milizen wurden mit Waffen ausgestattet. "Sie haben absichtlich Hass gegen uns gesät, um sie gegen uns aufzuhetzen", konstatiert Karambi.

Das geschah zeitgleich mit dem neuen Eroberungsfeldzug der M23-Rebellen. Seit November 2021 eroberten die Tutsi-Rebellen Teile von Nord-Kivu. Aus Kongos Hauptstadt hieß es sofort: Ruandas Armee sei einmarschiert. "Ihr Ruander, geht nach Hause!", hieß es daraufhin. Es kam landesweit zu Angriffen gegen Tutsi. Am Ende musste Kongos Verteidigungsrat, dem Präsident Felix Tshisekedi untersteht, die Regierung zu "Maßnahmen zur Vermeidung von Stigmatisierung und Menschenjagd" auffordern. Tshisekedi versicherte, er wolle, dass alle Ethnien in "Harmonie und ohne Diskriminierung" leben können.

Doch Verhandlungen mit der M23 lehnt er ab, beschimpft deren Mitglieder als "Terroristen". Stattdessen greift die Armee im Kampf gegen die Rebellen auf die Hilfe der ruandischen Hutu-Miliz FDLR (Demokratische Kräfte zur Verteidigung Ruandas) zurück - eine Gruppierung, die von Tätern des ruandischen Völkermordes geführt wird und die sich seit 1994 im Kongo versteckt.

"Geleugnet wird, dass sich eine Art lokaler Frust in dieser Bewegung namens M23 verbirgt", kritisiert Historiker Aloys Tegera. Er ist Tutsi, lebt im Exil. Für ihn gehen die Ursprünge der Diskriminierung auf die Kolonialzeit zurück, als die belgischen Kolonialherren auf Landkarten ethnische Gruppen einzeichneten, aber die Tutsi unerwähnt ließen. Auf dieser Grundlage argumentieren Hassprediger seitdem, die Tutsi seien keine Kongolesen, sondern alle Ruander.

Vertrieben von ihren Farmen

Die Motivation der M23, Krieg zu führen, ist von dieser Geschichte nicht zu trennen. Auf der Liste der Forderungen, die M23-Präsident Bertrand Bisimwa erläutert, steht dieses Problem ganz oben - "die Weigerung der Regierung, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um die sichere Rückkehr unserer Flüchtlinge zu gewährleisten, denen die Staatsbürgerschaft unter dem Vorwand verweigert wird, sie seien Ausländer".

Wer heute die M23 nach ihrer Motivation fragt, erhält meist die Antwort: "Ich will nach Hause auf unsere Farm, zu unseren Kühen." Die M23 sind Söhne der Farmer aus Masisi, die einst alles zurücklassen mussten. Als Ruandas Hutu-Armee, die 1994 den Völkermord organisiert hat, nach ihrer Niederlage gegen die ruandische Tutsi-Guerilla RPF (Ruandische Patriotische Front) in den Kongo vordrang, flohen kongolesische Tutsi-Familien nach Ruanda. In ihre Häuser zogen Völkermordtäter ein, sie organisierten sich neu in der FDLR, quasi wie ein Staat im Staat im Exil. Wenn die M23 heute die Masisi-Berge erobert, dann auch, um die FDLR von ihren Farmen zu verjagen.

Die meisten M23-Kämpfer wuchsen in Flüchtlingslagern in Ruanda auf, gingen dort zur Schule. Viele haben die ruandische Staatsbürgerschaft oder dienten gar in Ruandas Armee. Doch sie sehen sich als Kongolesen. Immer wieder formierten sie Rebellenarmeen, um ihre Heimkehr mit der Waffe zu erzwingen. Die M23 ist die jüngste davon.

Generation im Exil

Geholfen hat dies alles nichts, im Gegenteil. Im Vorjahr nahmen Übergriffe gegen die letzten noch verbliebenen Tutsi in den Masisi-Bergen dramatisch zu. Selbst die Rinderherden der Tutsi-Bauern bleiben nicht verschont. Auch davon gibt es Videos: Kälber mit durchgeschnittener Kehle, Kühe, denen man die Achillessehnen durchtrennt hat. "Die Rinder sind unsere finanzielle Absicherung", sagt der Sohn eines Tutsi-Bauers. "Unsere Rinder zu töten, soll uns im Exil finanziell zerstören, wenn sie unser nicht persönlich habhaft werden können."

Bis heute leben in Ruanda an die 72.000 Flüchtlinge aus Kongo; fast alle sind Tutsi. Manche sitzen seit 1996 in Lagern fest. Eine ganze Generation ist im Exil geboren, viele kämpfen heute in der M23. Und die Zahlen der Flüchtenden steigen wieder. Von November 2022 bis Februar 2023 flohen nach amtlichen ruandischen Angaben 4.300 kongolesische Tutsi nach Ruanda.

Ruandas Armee, die aus der Tutsi-Guerilla RPF entstand, fühlt sich gegenüber den M23-Kämpfern wie ein "großer Bruder". Man kennt sich, hat dieselbe traumatische Vergangenheit, dieselbe Ausbildung, dieselben Feinde: die Völkermordtäter von 1994, die heutige FDLR. Vor diesem Hintergrund ist die direkte militärische Unterstützung der M23 aus Ruanda ein offenes Geheimnis. Während es der M23 darum geht, ihre Heimatfarmen zurückzuerobern, will Ruandas Armee ihre Erzfeinde in der FDLR kampfunfähig machen.

Kritik an Vereinten Nationen

Eine Rückkehr der kongolesischen Tutsi in ihre Heimat läge im Interesse Ruandas. Mehrfach hat Ruandas Präsident Paul Kagame gedroht, keine Flüchtlinge aus Kongo mehr aufzunehmen. Kongolesische Flüchtlinge in Kigali reichten bei den Botschaften Frankreichs, Belgiens und Großbritanniens eine Petition ein, in der sie um internationale Hilfe baten.

"Die UN hat in ihrer Reaktion auf die Drohungen gegen die kongolesischen Tutsi ein hohes Maß an Widersprüchlichkeit gezeigt", stellt Bojana Coulibaly fest. Die Sprachwissenschaftlerin aus den USA erforscht den Konflikt. Es sei auffällig, so Coulibaly, dass "in allen Berichten" der UN-Mission im Kongo seit Juni 2022 "absichtlich jegliche Sprache entfernt" worden sei, die sich "auf gezielte Gewalt und Hassreden gegen die kongolesischen Tutsi bezieht". Dies entspräche quasi "einer "Leugnung des Völkermords, wie wir es 1994 in Ruanda gesehen haben".

Deswegen beschuldigt heute Ruandas Außenminister Vincent Biruta die Vereinten Nationen, Warnsignale wieder nicht ernst zu nehmen. "Der Grund, warum einige internationale Akteure zögern, den in der Demokratischen Republik Kongo geplanten Völkermord anzuerkennen", so Biruta, "liegt darin, dass dies mit der Verantwortung einhergeht, einzugreifen und es zu stoppen."