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"Zu groß ist der Schmerz"

Von WZ-Korrespondentin Birgit Svensson

Politik

Zu Besuch in Sindschar, wo die Jesiden seit Jahrtausenden leben und dem Genozid des IS ausgesetzt waren.


Ein Sturm fegt mit gewaltiger Kraft über Sindschar hinweg. Der Winter kämpft mit dem Sommer, und dieser Kampf wird hier mit aller Härte ausgetragen. Der noch junge Olivenbaum, der erst kürzlich im Garten des HOC (House of CO-Existence) gepflanzt wurde, hat Not, standhaft zu bleiben. Einige Blumen, die noch keine Wurzeln schlagen konnten, werden jäh aus dem trockenen Boden gerissen.

Auch in Sindschar, wie überall im Irak, fehlt Wasser. "Es war noch dunkel, als der IS über uns herfiel", erzählt Dalia im HOC über den Horror am 3. August 2014. "Sie kamen vom benachbarten Tal Afar." In den Gemeinden, die im Süden Sindschars liegen, richteten die Dschihadisten sofort ein Gemetzel an. Nur wenige konnten fliehen. Die meisten wurden getötet, in Massengräbern verscharrt oder verschleppt. Noch immer werden mehr als 3.000 Jesidinnen aus Sindschar vermisst, und keiner weiß, wo sie sind.

Glück im Unglück

Die Kleinstadt Sinun hatte Glück im Unglück. PKK-Kämpfer, die im Ort wohnten, warnten die Leute, sie sollten schnell fliehen, alles liegen und stehen lassen. Von der PKK begleitet, kamen Dalia und ihre Familie in die sicheren Kurdengebiete nach Dohuk. "Die haben uns das Leben gerettet", sagt sie heute. Die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) ist eine kurdische Untergrundorganisation, die sich militanter Methoden bedient und von der Türkei, der EU und auch den USA als Terrororganisation gelistet wird. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan bekämpft sie mit eiserner Härte und lässt die türkische Armee immer wieder ihre Stellungen auch im Irak bombardieren.

Fährt man durch die Straßen von Sinun, das in den 1970er Jahren gegründet wurde, fallen einem immer wieder Poster von getöteten PKK-Kämpferinnen und Kämpfern auf. Einen Unterschied zwischen der PKK und deren Schwesterpartei YPG, wie die Amerikaner ihre Verbündeten im Kampf gegen den IS nennen, macht hier niemand. Die Leute im Sindschar sprechen nur von der PKK. Als 1965 die damalige irakische Regierung beschloss, 322 jesidische Dörfer des Dschabel Sindschar in den Bergen zu zerstören, wurden die Bewohner zur Umsiedlung gezwungen. Das Baath-Regime von Saddam Hussein bezeichnete diese Umsiedlungsmaßnahme als "Modernisierungsprojekt".

Sinun entstand und hatte 2014, bevor der IS kam, knapp 17.000 Einwohner. Als die Dschihadisten die Kleinstadt unter ihre Kontrolle brachten, war sie leer, ihre Bewohner waren alle geflohen. Der IS wurde 2016 aus der Stadt und der gesamten Region Sindschar vertrieben. Trotzdem sind nur wenige Einwohner zurückgekehrt.

Mirza Dinnayi, der das Begegnungszentrum HOC im Jahr 2020 aufgebaut hat, spricht von einem Drittel Rückkehrer. Vor allem Frauen sieht man kaum. Viele sind nach Deutschland ausgereist, nach Baden-Württemberg, das großzügig Jesidinnen aufnahm, um sie mit ihren Traumata nicht alleine zu lassen. Viele sind noch in den Camps in Irak-Kurdistan, wo sie vor gut acht Jahren Zuflucht fanden. Doch plötzlich geht die Tür zum HOC auf, und herein kommen zwei Hochzeitspaare. Das passiere ständig, sagt Mirza. "Die wollen sich auf unserer Treppe fotografieren lassen." Es gebe sonst kein gutes Motiv für Hochzeitsfotos in Sinun.

Gut 20 Minuten dauert es, bis man von Sinun in den Bergen des Dschabel Sindschar ankommt. Eine atemberaubende Landschaft tut sich vor dem Auge der Betrachterin auf. Harmonische Hügel neben steilen Hängen, die im Frühling mit gelben Blumen bewachsen sind. Doch hier spielte sich im Hochsommer vor neun Jahren eine der größten Tragödien ab, die die jesidische Religionsgemeinschaft je ertragen musste. Wochenlang harrten die Menschen in den Bergen aus, in der prallen Hitze, ohne Wasser, Nahrung oder Zelte.

"Es war die Hölle"

"Es war die Hölle", sagt Mazen, der Fahrer, der sieben Wochen im Dschabel Sindschar zubrachte: "Unten stand der IS, immer auf der Lauer, oben waren wir, zitternd vor Angst." Mirza zeigt die Stelle, wo der Hubschrauber abstürzte, der Wasser und Nahrungsmittel für die Menschen an Bord hatte und den die Geflüchteten stürmten, um gerettet zu werden. "Wir waren hoffnungslos überladen", gibt der Jeside als Grund für den Absturz an.

Die irakische Regierung in Bagdad hatte drei Hubschrauber zur Verfügung gestellt, Mirza organisierte Versorgungsflüge. "Wie ein Film lief mein Leben vor meinen Augen ab", reflektiert er den Moment des Absturzes. Mit gebrochenen Beinen wachte er später in der Kurdenmetropole Erbil im Krankenhaus auf.wieder "Ich lebe ja noch", war seine erste Reaktion.

Khodeeda Hammo empfängt in einem Steinhaus in den Bergen. "Horaka jesidija" heißt heute die jesidische Bewegung für Fortschritt und Reformen, dessen Vorsitzender er ist, eine von vier jesidischen Parteien. Zwei Amtsperioden lang saß Khodeeda im Rat der Provinz Nineve, zu der Sindschar gehört. Der Rat, der in Mossul tagt, wartet nun auf die nächsten Provinzwahlen, die eigentlich schon voriges Jahr hätten stattfinden sollen, aber durch die politischen Unruhen vor allem in Bagdad verschoben wurden.

Es ist das erste Mal, dass die Jesiden im Irak politische Mitsprache haben. In der Verfassung des Irak, die 2005 nach dem Sturz Saddams verabschiedet wurde, ist der Minderheitenschutz verankert. Neben den Abgeordneten im Provinzrat, stehen ihnen auch Sitze im Parlament in Bagdad zu. "Jetzt wollen wir eine jesidische Selbstverwaltung, wollen unsere Zukunft selbst bestimmen, unser Schicksal in die eigene Hand nehmen."

Der Hauptgrund, warum so wenige Jesiden nach Sindschar zurückgekehrt seien, behauptet Khodeeda, "sind die unsicheren politischen Verhältnisse". Als Knotenpunkt der Handelswege zwischen dem Irak und Syrien wollen viele das Gebiet kontrollieren: die vom Iran dominierten Milizen der Volksmobilisierungsfront Hashd al Shabi, die PKK, die von der Türkei immer wieder angegriffen wird, die Zentralregierung in Bagdad und die kurdische Autonomieregierung in Erbil.

Vor allem auf die kurdischen Sicherheitskräfte sind die Leute in Sindschar sauer. Diese hätten sich aus dem Staub gemacht, als der IS kam, so ist allenthalben zu hören. Die Peschmerga sei zwar maßgeblich beteiligt gewesen, als Sindschar vom IS befreit wurde, räumt man ein, aber es hätte gar nicht zu diesem Wahnsinn kommen dürfen. "Die Kurden spalten uns", sagt Khodeeda, "sie tun alles, damit Sindschar unter ihre Kontrolle gerät." Das wollen er und seine Partei nicht zulassen.

Auch Mirza gibt zu, dass die kurdische Regionalregierung ihren Einfluss ausweiten möchte und sich die Region Sindschar, die zu den sogenannten zwischen Bagdad und Erbil umstrittenen Gebieten Iraks zählt, einverleiben will. Das habe System, meint er: "Sie kaufen die Jesiden." Er habe aber genug Distanz, dass er wisse, dass die Einwohner Sindschars eher zu Bagdad tendierten als zu Erbil und niemals eine Dominanz der Kurden akzeptieren würden. Mirza selbst ist als Berater der kurdischen Autonomiebehörde für die umstrittenen Gebiete angestellt, arbeitet drei Tage in Erbil und verbringt den Rest der Woche in Sindschar.

Zentrum in Schutt und Asche

Wie sehr die politische Unsicherheit die Entwicklung Sindschars behindert, sieht man deutlich in der Stadt, die der Region den Namen gibt. In Sindschar City sieht es aus, als ob der Krieg gegen den IS gestern erst zu Ende gegangen wäre und nicht schon vor acht Jahren. Die Innenstadt liegt nach wie vor in Schutt und Asche. Ein Bild der kompletten Zerstörung bietet sich der Besucherin, die Trümmer der Gebäude liegen unberührt herum.

Die Stadt ist menschenleer. Lediglich ein kleines Mädchen und ein kleiner Bub hämmern an der einzigen noch stehenden Wand eines zerstörten Hauses, um Nägel und Eisenhaken herauszudrehen, da man diese als Rohstoffe zu Geld machen kann. Ansonsten wollen die beiden Kinder keine Auskunft geben. Anhand ihrer leeren Augen und verstörten Blicke kann man ihren psychischen Zustand erahnen.

Die irakische Regierung hat kürzlich ein Dekret erlassen, wonach die Jesiden künftig Grund und Boden und Immobilien erwerben können, was ihnen seit 1975 untersagt war. Die UN-Organisation Habitat ist gerade dabei, Häuser und Familien im Sindschar zu registrieren. Danach können Anträge auf Eigentumserwerb gestellt werden. Mit dieser Maßnahme will die Regierung in Bagdad einen Anreiz für die Jesiden schaffen, in ihr Stammgebiet zurückzukehren.

Nicht weit von Sindschar City, an der Hauptstraße nach Mossul, erscheint Provinzrat Khodeeda im schwarzen Anzug. Der Sturm hat sich gelegt, und somit kann die Handlung vollzogen werden, die an diesem Morgen Organisationen wie das Rote Kreuz, die Internationale Organisation für Migration (IOM), den obersten jesidischen Geistlichen, Baba Scheich, Forensiker und Journalisten ins offene Feld treibt: Ein weiteres Massengrab mit mehr als 40 Leichen soll geöffnet werden. Fast 30 hat man bereits geöffnet, viele mehr warten noch darauf.

Das Identifizieren der Leichen sei kompliziert, sagt ein begleitender Arzt. Nach der Einwilligung von Baba Scheich hätten die Forensiker die Chance, die Leichen zu bergen und Angehörige zu empfangen, um DNA-Proben zu nehmen. Im Abgleich werde eine Todesurkunde erstellt, die dann die rechtliche Grundlage für alle anstehenden Erbangelegenheiten und auch Kompensationen bilde. Das sei jedes Mal eine enorme psychische Belastung für die Familien, sagt ein Sanitäter, der die Angehörigen betreut. "Wenn sie einen Arm oder eine Hand oder sonstige persönliche Gegenstände der Toten sehen, brechen sie zusammen. Zu groß ist der Schmerz."