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"Er wollte uns auf dem Laufenden halten"

Von Ronald Schönhuber

Politik
WZ-Collage; Foto: stock.adobe.com / Angelov
© WZ-Collage; Foto: stock.adobe.com / Angelov

Hinter dem massiven Leak dürfte ein US-Militärangehöriger stecken. Er wollte damit auch seine Chat-Freunde beeindrucken.


Eine kleine Flasche mit einem Klebstoff der Marke "Gorilla Glue" und ein paar Nagelknipser, die neben einigen der abfotografierten Unterlagen liegen - viel mehr Hinweise auf den Urheber des größten US-Geheimdienst-Leaks seit Edward Snowden gab es auch Tage nach der Entdeckung der Dokumente nicht. Trotz der intensiven Recherchen von Behörden und Medien blieb die Quelle unentdeckt.

Doch mittlerweile beginnen sich die Nebel zunehmend zu lichten. Laut der "Washington Post" soll ein junger Amerikaner, der auf einer US-Militärbasis gearbeitet hat, hinter der Veröffentlichung der streng geheimen Dokumente stehen, in denen es unter anderem um eine detaillierte Analyse der militärischen Kapazitäten der Ukraine und die möglicherweise geringen Erfolgsaussichten der erwarteten Gegenoffensive geht.

Der Mann mit dem Pseudonym "OG" hatte die brisanten Unterlagen zunächst als Abschriften in einer von ihm geleiteten Chat-Gruppe auf der bei Videospielern beliebten Plattform Discord geteilt. Über den ganzen Winter hinweg veröffentlichte der Mittzwanziger oft mehrmals täglich die streng geheimen Dokumente, auf die er während seines Arbeitstages gestoßen war. Als sich das Abschreiben als zu langwierig und mühsam erwies, begann "OG" laut der Zeitung damit, Bilder der brisanten Papiere zu posten. Dabei war es dem Mann offenbar auch gelungen, die Sicherheitsvorkehrungen zu umgehen, die eine Mitnahme von Mobiltelefonen und anderer fototauglicher elektronischer Geräte in besonders abgesicherte Einrichtungen verbieten.

Anführer und Vaterfigur

Laut der "Washington Post", die sich auf mehrere Stunden dauerende Interviews mit zwei Mitgliedern der rund zwanzigköpfigen Chat-Gruppe beruft, war "OG" nicht nur der unbestrittene Anführer, sondern für viele der teils noch im Teenager-Alter befindlichen jungen Männer so etwas wie eine Vaterfigur. Diese Rolle in der Gruppe dürfte für "OG" - das Pseudonym steht umgangssprachlich für "Original Gangster" - wohl auch ein Teil der Motivation gewesen sein, die Dokumente weiterzugeben. Laut der "Washington Post" hatte der junge Mann die anderen Chat-Mitglieder, die in der Gruppe auch nach Halt und Orientierung in einer immer schwieriger zu begreifenden Welt gesucht haben, immer wieder über weltpolitische Ereignisse unterrichtet. Sein Insiderwissen hatte er dabei dazu genutzt, um besonders kenntnisreich und überlegen, aber gleichzeitig auch fürsorglich zu erscheinen. "Er ist kein russischer Agent. Er ist kein ukrainischer Agent", sagte eines der Gruppenmitglieder gegenüber der "Washington Post". "Er wollte uns auf dem Laufenden halten."

Gegründet worden war die Gruppe im Jahr 2020 während der beginnenden Corona-Pandemie. Um der Isolation während der Lockdowns zu entkommen, spielten die Mitglieder Online-Spiele, sahen sich zusammen Videos an oder unterhielten sich einfach nur. Gemeinsam hatten die jungen Männer, die im Laufe der Zeit zu einer immer verschworeneren Gemeinschaft wurden, aber nicht nur eine Vorliebe für Videospiele. Laut der "Washington Post" verband die Gruppenmitglieder auch eine "Liebe zu Waffen, militärischer Ausrüstung und Gott". So ist in einem von der Zeitung gesichteten Video zu sehen, wie "OG" mit einem Gewehr auf einem Schießstand mehrere Schüsse abfeuert.

Düsterer Blick auf den Staat

Auf dem Video vom Schießstand ist auch zu hören, wie der junge Mann rassistische und antisemitische Parolen ruft. In den Interviews mit der "Washington Post" wird das von den befragten Gruppenmitgliedern zwar als nicht für voll zunehmender Humor unreifer Teenager abgetan, doch "OG" dürfte auch in vielen anderen Bereichen eine von extremistischem Gedankengut geprägte Weltsicht haben. So soll er die US-Regierung und die Strafverfolgungsbehörden als dunkle Macht angesehen haben, die die Wahrheit verschleiert und die eigenen Bürger unterdrückt.

Laut der "Washington Post" stand der von ihr interviewte Teenager auch noch in den vergangen Tagen in Kontakt mit "OG", der Mitte März damit aufgehört hatte, sensible Dokumente zu posten, nachdem ein Mitglied der Gruppe, der offenbar auch Nutzer aus der Ukraine und Russland angehörten, die Unterlagen auch in einer anderen Gruppe veröffentlicht hatte. Schon Anfang April, also unmittelbar, bevor die "New York Times" zum ersten Mal über das Leak berichtete, sei "OG" "verzweifelt" gewesen, weil nun "alles in Gottes Hand" ist.

Die Identität des derzeit wohl meistgesuchten Flüchtigen der USA oder seinen letzten Aufenthaltsort will der junge Mann aber auf keinen Fall preisgeben. "Sie werden mich vielleicht mit Gefängnis bedrohen, aber ich werde nichts sagen", erklärte der Teenager, dessen Mutter erst die Erlaubnis für das Interview mit der Zeitung geben musste, gegenüber der "Washington Post". "Er war mein bester Freund."