Die politische Situation in Tunesien ist für alle, die sich Zuge der Arabischen Revolution 2011 einen Übergang zu Wohlstand und Demokratie erhofft hatten, zum Albtraum geworden. Nach der Vertreibung von Langzeit-Diktator Ben Ali 2011 hat das Land mit Präsident Kais Saied wieder einen Mann an der Spitze, der nach der Alleinherrschaft strebt.
Saied hat das Parlament entmachtet und lässt Journalisten, vor allem aber Oppositionelle in großer Zahl festnehmen. Seiner Auffassung nach handelt es sich bei ihnen um "Terroristen", die unschädlich gemacht werden müssen. Saied regiert per Dekret, die Macht liegt in seinen Händen.
Erst am Dienstag hat die Polizei drei prominente Funktionäre der größten Oppositionspartei Ennahda festgenommen. Zudem wurde die Parteizentrale von Sicherheitskräften durchsucht. Und die Zentrale des Oppositionsbündnisses Nationale Heilsfront, das aus Parteien und Protestgruppen besteht, wurde geschlossen, wie die Nachrichtenagentur Reuters aus sicherer Quelle erfuhr.
Parteichef in Haft
Am Montag war mit Ennadha-Parteichef Rached Ghannouchi der führende Gegner Saieds festgenommen worden. Sein Gesundheitszustand sei schlecht, hieß es, er wurde in ein Spital gebracht. Ein Vertreter des Innenministeriums sagte, Ghannouchi sei auf Anordnung der Staatsanwaltschaft zum Verhör abgeführt und sein Haus durchsucht worden. Gegen den 81-Jährigen werde wegen "aufrührerischer Äußerungen" ermittelt. Mittlerweile ist Ghannouchi offiziell Inhaftiert, wie am Donnerstag eine Anwältin mitteilte.
Der betagte Politiker hatte am vergangenen Samstag auf einer Versammlung der Opposition gesagt: "Tunesien ohne Ennahda, ohne den politischen Islam, ohne die Linke oder irgendeine andere Komponente ist ein Fall für den Bürgerkrieg."
Mit der Festnahme Ghannouchis hat die Verhaftungswelle von Oppositionellen einen weiteren Höhepunkt erreicht. Saied rechtfertigt sein Vorgehen auch damit, Tunesien aus der Krise führen zu wollen.
Ghannouchi war in den 80er-Jahren ein politischer Gefangener und ging ins Exil. Während der Revolution in Tunesien 2011 kehrte er in seine Heimat zurück. Unter seiner Führung bewegte sich die religiöse Ennahda in Richtung der politischen Mitte und trat mehreren Regierungskoalitionen mit säkularen Parteien bei. Nach den Wahlen 2019 wurde er Parlamentspräsident.
Unterdessen wachsen angesichts der Entwicklungen Wut und Verzweiflung innerhalb der tunesischen Gesellschaft. Zuletzt ist nach einer Selbstanzündung ein dort bekannter Fußballprofi an den Folgen seiner schweren Verbrennungen gestorben. Er protestierte damit gegen Behörden- und Polizeiwillkür. "Ich habe keine Energie mehr. Lasst den Polizeistaat wissen, dass das Urteil heute vollstreckt werden wird", postete Nisar Issaoui kurz vor seinem Tod. Die Selbstanzündung eines jungen Mannes hatte 2011 zum Aufstand gegen Ben Ali und zum politischen Umsturz geführt.
Vor dem Staatsbankrott
Dabei wurde Said zu Beginn von vielen Tunesiern bejubelt. Eines seiner Versprechen war die Überwindung der wirtschaftlichen Stagnation. Davon kann nicht die Rede sein. Im Land wächst die Armut, Lebensmittel sind knapp und teuer. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei 40 Prozent. Laut dem tunesischen Institut für Statistik lag die Inflationsrate im Februar 2023 bei 10,4 Prozent - Tendenz steigend. Zusätzlich zu den hohen Preisen kommt es ständig zu Engpässen bei Gütern des Grundbedarfs, sagt auch der Jurist und Politologe Hamadi Redissi. Auch Grundnahrungsmittel wie Milch und Butter werden knapp, der Preis für Speiseöl verdoppelte sich zuletzt.
Dazu kommt, dass das ehemalige Vorzeigeland des Arabischen Frühlings unmittelbar vor dem Staatsbankrott steht. Die Regierung hofft auf einen Milliarden-Kredit des Internationalen Währungsfonds (IWF). Der IWF fordert im Gegenzug die Aufhebung von Subventionen unter anderem für Kraftstoffe und Nahrungsmittel sowie weitere Reformen. Das lehnen die Gewerkschaften ab, da sie für viele ohnehin unter der Wirtschaftskrise leidenden Tunesier extrem schmerzhaft wären.
Die Rating-Agentur Moodys stufte Tunesien Ende Jänner auf die schlechteste Klasse Caa2 herunter. Und die Armut war neben Mängeln in der Verfassungsgebung von Beginn an einer jener Faktoren, die die junge tunesische Demokratie an den Abgrund gebracht haben.(red.)