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Wo die Luft für Reformen dünn ist

Von Moritz Hell

Politik

Ein baskischer Journalist schildert die schlechten Arbeitsbedingungen in Boliviens Montanindustrie.


Cerro Rico de Potosí. Das ist der Name des rohstoffreichen Berges im bolivianischen Hochland, um das sich alles in Ander Izagirres Buch "Der Berg, der Menschen frisst" dreht. Wortgewaltig und pointiert, dabei aber nie polemisch, erzählt der baskische Journalist Izagirre die Geschichte des Bergbaus in Bolivien - und damit auch die Geschichte des Landes.

Auf über 4.000 Metern Höhe schürfen Menschen, oft sogar Kinder, in stickiger, an Schadstoffen reicher Luft und haben davon vor allem eines: ein Leben in Armut. Das geht schon seit 500 Jahren so. Seit damals werden in den bolivianischen Minen Rohstoffe wie Silber, Zinn und Zink abgebaut. Verändert hat sich bis heute nicht viel, meint Izagirre: Waren es in der Kolonialzeit die Spanier, die die Indigenen zur Sklavenarbeit zwangen, sind es heute internationale Bergbauunternehmen, die die Bolivianer über Scheingenossenschaften für Hungerlöhne ausbeuten. "Der Reichtum von Potosí war nicht das Silber", schreibt der Autor. "Der Reichtum von Potosí war der Indio." Es sind Sätze wie diese, die das Sachbuch stellenweise wie einen Roman wirken lassen.

Ein anderer Grund für diese romanhafte Stringenz ist die Art, wie Izagirre Zahlen, Daten und Fakten einbringt: Sie passen immer perfekt in den erzählerischen Bogen, hängen nicht lose im Buch, sondern treiben die Handlung voran oder folgen dieser. Beispielsweise nennt der Autor eine Befragung jugendlicher Arbeiter am Cerro Rico ("95 Prozent hatten keinen schriftlichen Arbeitsvertrag. (. . .) 64 Prozent gingen nicht zur Schule. (. . .) 94 Prozent kannten ihre Arbeitnehmerrechte nicht oder wussten nicht, an wen sie sich wenden konnten, um sie einzufordern"). Als Konsequenz dieser Befragung wollte die damalige Regierung unter Evo Morales die Rechte der Minenarbeiter stärken - und so landet Izagirre bei Protesten von Arbeitern, die auf Geheiß der Genossenschaftsführer gegen die Verbesserung ihrer eigenen Situation demonstrieren und so das Land lahmlegen.

Keine Politik für die Armen

Schlechte Arbeitsbedingungen waren in Bolivien immer wieder Ursache für Umstürze. Langfristige Veränderungen wurden damit nicht wirklich erreicht, auch, weil Bergbaubarone wie Simón Patiño bei Protesten "die Armee in die Bergbaulager" schickte. "Die Regierung befand sich in den Händen der Bergbauoligarchen" - das traf zu vielen Zeitpunkten zu, egal, ob Izagirre damit demokratisch legitimierte Oberhäupter meint oder Diktatoren, die sich mit wiederholter kräftiger Unterstützung der USA an die Macht putschten. Dieser Umstand lässt ihn den vielleicht treffendsten, definitiv aber humorvollsten Satz des Buches über das teils hochgelegene Land sagen: "Die Luft für politische Veränderungen ist in Bolivien sehr dünn".

Denn in Bolivien scheint - oder schien - es ein Muster zu geben für politische Entwicklungen. Wenn die Lebensbedingungen zu schlecht sind, schafft es ein linksgerichteter Kandidat, die Präsidentschaftswahlen zu gewinnen. Dieser stärkt daraufhin soziale Rechte und entmachtet Bergbaukonzerne, die Verbindungen zu den USA haben, was wiederum die CIA auf den Plan ruft. Der Geheimdienst finanziert bolivianische Generäle, damit das Militär eingreift, das anschließend eine Junta errichtet. Deren Legitimation durch Wahlen gelingt nicht immer. Diesen Vorgang schildert Izagirre mehrmals. Darum war das Jahr 1985 ein besonderes: "Eine demokratische Regierung übergab die Macht an eine andere demokratische Regierung (. . .), auf friedliche Art und Weise, das erste Mal in der 160-jährigen Geschichte Boliviens", schreibt er.

Und dennoch war zu diesem Zeitpunkt keine Rede von Politik für die Ärmeren. Denn manchmal braucht es nicht einmal einen Militärputsch. Dann reicht es, wenn die USA den Markt mit Rohstoffen fluten, die auch in den bolivianischen Minen gewonnen werden. Weil Bolivien nie die Wirtschaft "diversifiziert" hat - auch unter Morales nicht -, ist das Land bis heute stark von seinen Minen abhängig - das ist einer der Kritikpunkte Izagirres auch an linken Regierungen. So gerät das Land in hohe Verschuldung, und auf internationalen Druck hin muss es sich die Wirtschafts- und Sozialpolitik von außen diktieren lassen.

"Die neue bolivianische Regierung (. . .) war aufgefordert, die gigantischen Schulden zu begleichen, die die Militärdiktaturen hinterlassen hatten", sagt Izagirre über 1985. 40 Seiten oder rund drei Jahrzehnte davor heißt es: Die Vereinigten Staaten "ergriffen drei Maßnahmen, um Bolivien zu erdrosseln: Sie blockierten die Exporte und ließen das Land ohne Einnahmen dastehen; sie verlangten, dass Bolivien seine Auslandsschulden in Höhe von 62 Millionen Dollar bezahlte - eine Schuld, die 1931 eingefroren wurde und die die Vereinigten Staaten nie eingefordert hatten, solange die Bergbauoligarchen regierten; und sie verkauften auf einen Schlag 50.000 Tonnen Zinn, um den Markt zu sättigen. Die USA verkauften dasselbe Zinn, das Bolivien ihnen fast geschenkt hatte."

CIA-Dokumente

Izagirre beruft sich in dieser Causa unter anderem auf freigegebene Dokumente der CIA und Aussagen von Experten des Internationalen Währungsfonds‘; Jeffrey Sachs (der später berichtete, dass "‘das Ende der Hyperinflation nicht das Ende von Leid und extremer Armut bedeutete‘") wird ebenso zitiert wie Davidson Budhoo ("‘Wir haben das wirtschaftliche Chaos in Lateinamerika zwischen 1983 und 1988 verursacht. Wir haben es getan, um unser Ziel zu erreichen: die Privatisierung des Südens‘"). Mit ihnen geht Izagirre hart ins Gericht, als er die Marktliberalisierung anprangert. "Regierungen und Börsenmakler spekulieren mit Rohstoffen; in diesem Spiel ruinieren sie die unterentwickelten Länder; diese Länder akzeptieren die internationale Hilfe und ihre Bedingungen, um sich selbst zu retten; zum Beispiel verzichten sie darauf, in die Beziehungen zwischen Unternehmen und Arbeitern einzugreifen, (. . .) und so kommt am Ende der Kette ein zwölfjähriges Mädchen in die Mine."

Das zwölfjährige Mädchen trägt den anonymisierten Namen Alicia Quispe und ist bei Beginn der Erzählung bereits 14 Jahre alt. Sie ist jene Gesprächspartnerin, der Izagirre die meiste Aufmerksamkeit widmet. Man merkt ihm die Sympathie an, die er für sie und ihre Familie hat. Zwischen den Zeilen liest man, wie fassungslos er darüber ist, dass sie mit ihrer Mutter und ihrer Schwester in einer winzigen Hütte, die kaum mehr als ein Dach über dem Kopf ist, unter unwirtlichen Bedingungen am Cerro Rico lebt. Auch, dass Alicia mit 14 in einer Mine arbeitet, ist für Izagirre wohl ein Kuriosum. Doch er versucht es aus dem Blickwinkel der Kinder zu sehen, die sogar für ihr Recht auf Arbeit demonstriert und sich 2014 durchgesetzt haben: Das Geld, das die Erwachsenen - das heißt im Normalfall: die Väter - in der Mine verdienen, reicht nicht zum Überleben. Aus demselben Grund verkaufen viele Bergarbeiterfrauen Gesteinsreste auf öffentlichen Plätzen. "‘Kinderarbeit zu verhindern ist eine sinnlose Maßnahme, wenn die Familien im Elend leben‘", wird der fassungslose ehemalige Bürgermeister der Bergbaugemeinde Llallagua, Héctor Soliz - ein anderer Gesprächspartner - zitiert.

Sexuelle Übergriffe

Gegen Ende des Buches setzt Izagirre sich mit einem Thema auseinander, dem er zunächst keine Bedeutung beizumessen scheint: sexuelle Übergriffe von Bergarbeitern auf Frauen und Mädchen. Das problematische Männerbild der Minenarbeiter deutet sich bereits auf den ersten Seiten an. Der "Tío", der Onkel, ist der Schutzpatron der Kumpel, ein Geist, der die Tiefen regiert. In den Minen gibt es Zeichnungen und plastische Figuren von ihm: "Er lächelt, die Beine sind gespreizt, um sein wichtigstes Attribut zur Schau zu stellen: einen großen erigierten Penis."

Izagirre scheint die Verbindung zu den Belästigungen und sogar Vergewaltigungen zu erahnen. Er wohnt auch einem Präventionsworkshop Gewalt gegen Kinder bei. Warum er aber die Minenarbeiter, mit denen er spricht, nicht mit den Übergriffen konfrontiert, bleibt ein Rätsel und ist vielleicht der einzige Schwachpunkt dieses ansonsten so starken Buches.

"Der Berg, der Menschen frisst. In den Minen des bolivianischen Hochlandes" erschien bereits 2017 im spanischen Original, doch erst Ende vergangenen Jahres in einer hervorragenden Übersetzung von Grit Weirauch auf Deutsch. Sein Autor bezweifelt, dass das Buch dazu beitragen wird, "über die Mechanismen der Ungerechtigkeit zu sprechen und über ihre Nutznießer". Vielleicht hilft diese Kritik dabei. (apa)