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Diplomatie und Realpolitik

Von Michael Gehler

Reflexionen

Der "Homo politicus" wird am 27. Mai hundert Jahre alt. Seine Karriere spiegelt die Weltpolitik der USA im 20. Jahrhundert.


Heinz Alfred Kissinger kam am 27. Mai 1923 in einer Familie jüdischen Glaubens im mittelfränkischen Fürth zur Welt. Vater Louis war Erdkunde- und Geschichtslehrer, Mutter Paula die Tochter eines betuchten Viehhändlers. Von einem der Vorfahren, Meyer Löb (1767-1838), aus dem Kur-Badeort Kissingen in Unterfranken stammt der Nachname.

Begeistert spielte Kissinger in der Fußballjugend der Spielvereinigung Fürth. Ein Gymnasialbesuch war aufgrund der Nürnberger Rassegesetze ausgeschlossen und der Vater suspendiert. Dem Holocaust entging die Familie durch Flucht: Über London ging es 1938 nach New York, wo Kissinger die George Washington High School besuchte. Die US-Staatsbürgerschaft erwarb er mit dem Militärdienst 1943.

Im März 1945 befand er sich mit einem US-Bataillon in Krefeld und im April in Hannover, um Gestapo-Beamte zu verhaften und das KZ-Außenlager Ahlem zu befreien. Bis April 1946 war Kissinger für das Counter Intelligence Corps im hessischen Bensheim tätig, um Kriegsverbrecher aufzuspüren und die Entnazifizierung einzuleiten. Seit 1947 studierte er in Harvard Politikwissenschaft. Seine 1954 abgeschlossene Doktorarbeit erschien unter "Großmacht Diplomatie. Von der Staatskunst Castlereaghs und Metternichs" 1962 auch auf Deutsch.

Die Theorie des kulturpessimistischen Philosophen Oswald Spengler von zyklisch verlaufenden Zivilisationen teilte er zwar, schloss jedoch nicht auf deren zwanghaften Niedergang, sondern dass kluge und pragmatische Staatspolitik dieses Schicksal abwenden könne. Macht- und Realpolitiker wie Metternich und Bismarck dienten ihm dabei als Vorbilder.

Interessen vor Werten

Der Kalte Krieg zog Kissinger in seinen Bann. Im Buch "Kernwaffen und auswärtige Politik" (1957) sprach er sich, für den Fall eines Angriffs der Warschauer-Pakt-Staaten, gegen die Rollback-Doktrin und die Strategie der "massiven Vergeltung" der Eisenhower-Dulles-Administration aus. Alternativ verwies er auf eine flexible Antwort mit konventionellen Streitkräften und notfalls taktischen Nuklearwaffen.

Als Berater diente er einer Behörde für Waffenentwicklung beim Vereinigten Generalstab sowie einer Agentur für Abrüstungsfragen und Waffenkontrolle. Eine Professur für Internationale Beziehungen folgte an der Georgetown University. Auch als politischer Berater des New Yorker Gouverneurs Nelson Rockefeller machte er auf sich aufmerksam. Mit der Wahl Richard Nixons zum Präsidenten agierte er 1968 als dessen National Security Advisor - zeitweise unter Umgehung des State Departments.

Im Zeichen des Vietnamkriegs schienen die USA im Niedergang und die UdSSR durch Aufrüstung und wachsenden Einfluss im Nahen Osten im Aufstieg, woraufhin Kissinger nationalen Interessen den Vorrang vor demokratischen Werten einräumte. Es ging um Partnerschaften, jenseits von Freiheit und Recht. "Feministische Außenpolitik", wie sie heute gefordert wird, kam ihm nicht in den Sinn.

Im Juli und Oktober 1971 unternahm er geheime Missionen in die Volksrepublik China, um bei Zhou Enlai für einen Besuch Nixons zu werben. Mit "Ping-Pong-Diplomatie" normalisierten sich die Beziehungen. Eine Visite in Moskau führte zwischen den USA und der UdSSR zur Begrenzung strategischer Rüstungspotentiale mit dem SALT-I- und ABM-Vertrag - die Basis für Entspannungspolitik in Europa. Geheimgespräche mit Nordvietnam führten 1973 zu einem Friedensabkommen. Dafür erhielten Kissinger und Lê Đú’c Tho den Friedensnobelpreis, den Letzterer jedoch ablehnte, da der Krieg noch andauerte.

Nach dem Watergate-Skandal blieb Kissinger Außenminister unter Präsident Gerald Ford. In den Friedensbemühungen im Rahmen der Genfer Nahostkonferenz wirkte Kissinger durch Shuttle Diplomacy (Pendeldiplomatie) zwischen Israel, Syrien und den arabischen Ländern an der Beendigung des Jom-Kippur-Krieges mit. Zum Übereinkommen zwischen Jassir Arafat und Jitzchak Rabin 1993 trug er maßgeblich bei. Ägyptens Staatspräsident Hosni Mubarak bewegte er zur Vermittlung zwischen Israel und der palästinensischen Autonomiebehörde, gleichwohl sich der Nahostkonflikt als unlösbar erwies.

Es gab auch dunkle Seiten. Entgegen dem Wahlkampfversprechen Nixons bombardierten die USA im März 1969 das neutrale Kambodscha in der streng geheimen, aber aufgedeckten Operation "Menu", um Nachschublinien kommunistischer Nordvietnamesen zu zerstören. Massen demonstrierten in den USA gegen den Krieg. Die Destabilisierung Kambodschas führte zum Bürgerkrieg. Die Roten Khmer übernahmen 1975 die Macht und begingen einen Völkermord an der eigenen Bevölkerung mit rund zwei Millionen Opfern.

Beim Militärputsch in Chile am 11. September 1973 gegen den sozialistischen Präsidenten Salvador Allende und der Ermordung seines verfassungstreuen Generalstabschefs René Schneider im Zeichen der "Operation Condor" war nicht nur die CIA beteiligt, sondern auch Kissinger involviert. Er unterstützte 1975 die Invasion Osttimors, das kein zweites Kuba werden sollte, durch Indonesiens Präsident General Suharto mit dem Ergebnis von fast 200.000 Toten. Menschenrechte kümmerten Kissinger nicht. Der argentinischen Militärdiktatur signalisierte er 1976 seine Zustimmung. Die Anstiftung zu Mord und Militärcoups in Lateinamerika führten zu Gerichtsvorladungen, zu denen Kissinger nicht erschien.

Berater und Autor

Mit der Amtsübernahme von US-Präsident Jimmy Carter 1977 zog sich der Homo politicus nur scheinbar ins Private zurück. Er unterstützte Ronald Reagans Präsidentschaftskandidatur und wurde nach dessen Wahl einer seiner Berater. Mehr oder weniger erfolgreich beriet er auch George Bush junior.

Kissinger trat für die Aufnahme der Formulierung vom "friedlichen Wandel" in die KSZE-Schlussakte von 1975 ein, womit die "deutsche Frage" offenblieb. Kanzler Helmut Kohls Berater Horst Teltschik bestärkte er 1990 zur Einheit: "Horst! Do it!"

Neben unzähligen Auszeichnungen und Ehrungen erhielt Kissinger 1987 den Aachener Karlspreis "in dankbarer Anerkennung seines erfolgreichen Wirkens für Frieden und Verständigung und seines Drängens auf ausgewogene Partnerschaft mit einem zur Union erstarkten Europa". Laut dem Laudator, Außenminister Hans-Dietrich Genscher, verkörperte Kissinger "beste Traditionen europäischer Außenpolitik, einer Außenpolitik des Maßes und des Gleichgewichts, der Außenpolitik einer Epoche, in der Europas Staatsmänner sich darauf verstanden, den Frieden zu wahren".

Neben seinen Memoiren publizierte Kissinger zahlreiche Bücher, unter anderem über "Grundfragen westlicher Außenpolitik" (1961), "Das Gleichgewicht der Großmächte" (1986), "Die Vernunft der Nationen" (1994), "Jahre der Erneuerung" (1999), "Die Herausforderung Amerikas" (2002), "China - Zwischen Tradition und Herausforderung" (2011), "Weltordnung" (2014), "Das Zeitalter der KI und unsere menschliche Zukunft" (2021) und "Staatskunst" (2022).

Schon früh wurde die "geheime Seite des Außenministers" (Gary Allen, 1976) erkannt. Das Urteil der Fachleute pendelte zunächst zwischen "Historiker und Staatsmann" (Edith J. Fresco-Kautsky, 1983) und dem "Doktor der Diplomatie" (Robert D. Schulzinger, 1989). "Die Akte Kissinger" (Christopher Hitchens, 2001) rückte ihn dann in die Nähe eines Kriegsverbrechers. Hans Magnus Enzensberger war nicht der Einzige, der das auch öffentlich aussprach.

"Der fehlerhafte Architekt" (Jussi Hanhimäki, 2004) wurde als "Personfikation des amerikanischen Jahrhunderts" (Jermi Suri, 2009) begriffen. Einem "exzentrischen Realisten" (Mario Del Pero, 2010) folgte der "neubetrachtete Realist" durch Niall Ferguson (2016), der zum Schluss kam, Kissinger sei inspiriert durch Kant, bestärkt durch die Kritik an der Appeasement-Politik Neville Chamberlains und infolge seines Emi-grationsschicksals ein Idealist gewesen. Zuletzt erschien Kissinger als "Amerikas umstrittenster Staatsmann" (Greg Grandin, 2016) und "Wächter des Imperiums" (Bernd Greiner, 2020).

Kissinger forderte 1995, in dem Artikel "Die Atlantische Gemeinschaft neu begründen", einen "ehrenvollen Platz für Russland". Für den Westen hielt er es für wichtig, festzustellen, ob die Sicherheitsbedürfnisse Russlands innerhalb seiner bestehenden Grenzen erfüllt werden können. Die KSZE sah er als "das geeignetste Forum für eine Vertiefung der politischen und wirtschaftlichen Beziehungen".

Haltung zur Ukraine

Kurz vor der Krim-Annexion prophezeite er 2014: Wenn die Ukraine überleben und gedeihen soll, dürfe sie "nicht der Vorposten der einen Seite gegen die andere sein - sie sollte als Brücke zwischen beiden Seiten fungieren". Er zweifelte jedoch an der staatsmännischen Klugheit ihrer Führung.

Die EU kritisierte er für "ihre bürokratische Schwerfälligkeit" und "die Unterordnung des strategischen Elements unter die Innenpolitik", die bei den Verhandlungen über die Beziehungen zur Ukraine eine Krise verursacht hätten. Sie "als Teil einer Ost-West-Konfrontation zu behandeln", würde jede Aussicht, Russland und den Westen - insbesondere Russland und Europa - in ein kooperatives internationales System zu bringen, für Jahrzehnte zunichtemachen".

Über die Rolle der USA schwieg er. Einen ukrainischen Nato-Beitritt lehnte er ab. Nach Wladimir Putins Angriffskrieg schlug Kissinger im Mai 2022 vor, Russland den Donbass und die Krim zu überlassen. Wolodymyr Selenskyj lehnte das kategorisch ab und warf Kissinger vor, wie Hitler gegenüber der Tschechoslowakei 1938 vorgehen zu wollen.

Kissinger warnte vor der Gefahr, dass es "um einen neuen Krieg gegen Russland selbst" gehen könnte. Im Jänner 2023 hielt er fest, dass die Ukraine dabei unterstützt werden müsse, den Zustand vor der Eskalation des Kriegs bis 2021 wiederherzustellen, und zudem der Nato beitreten solle - Flexibilität war stets ein Kennzeichen Kissingers.

In seiner Vita spiegelt sich die amerikanische Weltpolitik im 20. Jahrhundert, auch mit ihren dunklen Seiten. Die Globalisierung verstand er als anderes Wort für die Herrschaft der USA in einer Welt ohne perfekte Partner. Ihre globale Hegemonie ist jedoch fraglich geworden.

Michael Gehler ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Hildesheim und der Andrássy Universität Budapest.