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Gewalttätige Sprachlosigkeit

Von Michael Schmölzer

Politik

Ägyptens Jugend kämpft für Demokratie, spanische Studenten protestieren für Jobs.| Englische Teenager setzen Häuser in Brand: Die undifferenzierte Brutalität britischer Jugendlicher hat tief sitzende Wurzeln


London/Wien. In den arabischen Ländern werden jugendliche Demonstranten wie Helden gefeiert, in Spanien und Griechenland machen sie auf fehlende Jobperspektiven und fehlgeleitete Sparpolitik aufmerksam - und ernten zumindest Verständnis. Die Briten sind unterdessen mit einer völlig anderen Situation konfrontiert. Jugendliche veranstalten in London und nordenglischen Industriestädten Krawalle, Häusergehen in Flammen auf, Geschäfte werden leergeräumt. Die Teile der britische Bevölkerung, die zunächst noch Verständnis für die Rebellion äußerten, wandte sich sehr schnell von den Gewalttätern ab. Premier David Cameron droht den Krawallmachern mit der vollen Härte des Gesetzes, britische Gerichte sind Tag und Nacht mit der Aburteilung der Randalierer beschäftigt.

Der renommierte deutsche Soziologe Simon Teune analysiert im Gespräch mit der "Wiener Zeitung" die Ursachen zwischen den völlig unterschiedlichen Protestformen. Warum kam es in England zu gewalttätiger Sprachlosigkeit, im Rest Europas und in den arabischen Ländern aber zu artikuliertem Protest ?

"Enttäuschte Illusion"

Die Jugendlichen in den englischen Problemvierteln, so Teune, fühlten sich "ganz grundsätzlich abgehängt und ausgegrenzt". Sie seien bereits in eine unterprivilegierte Situation hineingeboren und seitdem tagtäglich mit Diskriminierung konfrontiert. Das beginne schon bei desolaten Wohnverhältnissen. Oft würden vier bis sechs Personen in Zwei-Zimmer-Wohnungen leben, der Weg der Kinder auf die Straße sei vorgezeichnet. Denn "dort suchen die Jungen eine gleichaltrige Bezugsgruppe". Benachteiligung im Bildungsbereich würde zu verminderten Lebenschancen und schlechten Jobs führen. "Zwar ist in Großbritannien die Jugendarbeitslosigkeit nicht so hoch wie in anderen Ländern. Die Leute haben Jobs, aber keine Aufstiegsmöglichkeiten".

Dazu komme, dass in Großbritannien jeder, der im Land geboren sei, als integrierter Bestandteil der Gesellschaft gesehen werde - vordergründig. Das Versprechen werde in der Realität nämlich nicht eingehalten. Als Grundstimmung sei deshalb "latente Aggression und Unzufriedenheit" feststellbar, es genüge ein einziger Anlass wie Polizeigewalt, um das Pulverfass zum Explodieren zu bringen. "Der Angriff auf ein Individuum wird als Angriff auf die ganze Gruppe gesehen", so der Experte.

Der Staat, so Teune, werde in den englischen Unterschichten-Bezirken nur als polizeiliche Gewalt wahrgenommen. "An die Politik haben diese Menschen keine Erwartungen. Politischer Protest macht also gar keinen Sinn." Eine friedliche Demonstration gehöre nicht zum erlernten Repertoire, meint der Soziologe.

Die sozial Deklassierten in London und den nordenglischen Industriestädten hätten sich zudem - so die These Teunes - bei den Krawallen erstmals als aktive Akteure erlebt. "Sie haben die Situation genutzt, um den Takt anzugeben, sich als selbst Handelnde zu erleben." Damit einher gehe ein Gefühl der Befriedigung.

Die Wurzeln der derzeitigen englischen Krawalle reichen für Teune weit in die Vergangenheit zurück. Unter Ex-Premier Margret Thatcher, der "Iron Lady", habe es in den 80er-Jahren starke gesellschaftliche Entsolidarisierungstendenzen gegeben: "Die Menschen fühlten sich nicht mehr aufgehoben und vom Sozialstaat aufgefangen." Das rigorose Sparprogramm der Regierung David Cameron verschärfe die Situation zusätzlich. Britische Studenten hätten bereits vehement und zum Teil auch gewalttätig gegen die massive Anhebung der Studiengebühren demonstriert.

In der "Null-Toleranz"-Strategie, die vom britischen Premier David Cameron derzeit angewandt wird, sieht Teune nur einen sehr kurzfristigen Lösungsansatz. "Das macht dann Sinn, wenn später politische Maßnahmen folgen. Sonst ändert sich nichts." Der Soziologe verweist in diesem Zusammenhang auf Frankreich, wo im Jahr 2005 Nicolas Sarkozy als damaliger Innenminister kompromisslos gegen randalierende Jugendliche vorging. "An der Gesamtsituation hat sich aber nichts verändert", so Teune. Die soziale Ungleichheit, würde dort weiterhin existieren, das sei der "Humus" für weitere Ausschreitungen.

"Eltern überfordert"

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Dazu kommt, dass Jugendliche in den englischen Problemgegenden häufig mit einer schwierigen familiären Situation konfrontiert sind. "Die Eltern sind überfordert, die Kinder und Jugendlichen werden allein gelassen", so die Jugendpsychologin und Gerichtssachverständige Barbara Khalili-Langer. "Oft werden die Kinder geschlagen, das hat Vorbildwirkung", meint Khalili-Langer über die Faktoren, die jugendliche Gewalt begünstigen. Sie weist darauf hin, dass diese Probleme nicht auf unterprivilegierte Familien beschränkt sind - viele der englischen Randalierer stammen tatsächlich nicht aus verarmtem Milieu. Wer in der Familie wenig Beachtung erfahre, der entwickle allgemein wenig Selbstbewusstsein - und neige dazu, sich Gruppen und Banden anzuschließen. "Da gibt es dann die Mitläufer, die Anerkennung in der Gruppe suchen", so die Psychologin.

Vor allem US-Soziologen weisen darauf hin, dass sich Jugendliche, die ohne Vater aufwachsen, überproportional oft Banden anschließen. Dort würden sie Vaterfiguren in Form von älteren Bandenchefs vorfinden, denen sie nacheifern könnten.

Im Fall der Proteste in Spanien oder in Griechenland sieht Soziologe Teune ein völlig anderes Szenario als in Großbritannien. Dort handle es sich um gut gebildete junge Menschen mit großen Erwartungen - die sich unter den derzeitigen Bedingungen nicht erfüllen. Die Demonstranten in Südeuropa hätten die Voraussetzungen, sich politisch zu artikulieren - ganz im Gegensatz zu England, wo die Jugendlichen nur noch auf Gewalt zurückgreifen konnten.

Die Gefahr, dass die Krawalle von der Insel auf Deutschland übergreifen, sieht Teune übrigens nicht. Das schon allein deshalb, weil es in Deutschland im Hinblick auf Migranten nicht das große Versprechen des "Dazugehörens" gebe. Ausländer würden sich von vornherein als ausgegrenzt erleben, das Enttäuschungserlebnis falle deshalb weg. Außerdem gebe es in Deutschland die Gettos außerhalb der Städte nicht. "Der Grad an Verzweiflung ist hier nicht so hoch", ist der Soziologe optimistisch.

Unterdessen wird in Großbritannien Kritik an den exemplarisch harten Strafen laut, die über jugendliche Randalierer und auch über Personen, die über Facebook zur Gewalt aufgerufen haben, verhängt werden. Erfahrene Juristen rechnen bereits mit Schwierigkeiten, einem "Rattenschwanz von Berufungen". Der Strafverteidiger Paul Mendelle sieht die Gefahr, dass Urteile im Schnellverfahren gefällt und bestehende Justizregeln über Bord geworfen würden. NGOs weisen darauf hin, dass harte Strafen für Jugendliche schon in der Vergangenheit wenig gebracht hätten. Man habe dabei immer übersehen, die Eltern einzubeziehen. "Der Grad an Verzweiflung ist in Deutschland nicht so hoch wie in England."