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Mit Hochzeitsgeld auf Stimmenfang

Von Klaus Huhold

Politik

Die religiöse An-Nahda-Partei gibt sich moderat, löst aber Ängste aus.


Tunis. Tunesien nimmt erneut die Vorreiterrolle ein: Nachdem Proteste gegen Diktator Zine el-Abidine Ben Ali Anfang des Jahres den arabischen Frühling ausgelöst hatten, sind die Tunesier nun die Ersten, die nach einem erfolgreichen Aufstand ihre Volksvertreter in freien Wahlen bestimmen. Am Sonntag findet das Votum zur Konstituierenden Nationalversammlung statt. Deren Mandat ist auf ein Jahr beschränkt, sie soll einen Übergangspräsidenten bestimmen und eine neue Verfassung ausarbeiten. Die Wahl ist ein Meilenstein auf dem Weg zur Demokratisierung des Landes und wird wohl auch in der übrigen arabischen Welt Signalwirkung haben.

Die Hauptstadt Tunis befindet sich nach den bleiernen Jahren der Diktatur Ben Alis im Wahlkampffieber. Die verschiedenen Versammlungen der Parteien sorgten teilweise für ein Verkehrschaos. Die Parteienlandschaft lässt sich sowohl als Vielfalt als auch als Wirrwarr betrachten, 1570 Wahllisten streiten um die 217 Sitze. Ein Favorit schält sich aber in der zersplitterten Parteienlandschaft heraus: die islamistische An-Nahda-Partei, der Prognosen zwischen 15 und 30 Prozent der Stimmen geben. Allerdings soll ein Drittel der Wähler noch unentschlossen sein, und die Umfragen sind mit Vorsicht zu genießen.

Golf-Monarchien mischenin Tunesien mit

Die An-Nahda - deren Name sich mit "Wiedererweckung" übersetzen lässt - wurde unter Ben Ali noch verfolgt, viele ihrer Mitglieder büßten ihr Engagement mit Kerker. Nun ist die Gruppierung plötzlich eine sehr finanzstarke Bewegung, die über einen großen Apparat verfügt. In ihrem Wahlkampf setzt die An-Nahda laut Beobachtern in Tunis nicht nur auf politische Argumente. Sie verteilt Lebensmittel, finanziert Hochzeiten oder spendet Schlachtlämmer für das bevorstehende Opferfest.

"Jeder weiß, dass die An-Nahda ausländische Gelder erhält, namentlich aus Saudi-Arabien", sagt der Berliner Politologe Hamadi El-Aouni im Gespräch mit der "Wiener Zeitung". "Das ist nicht der saudische Staat, der das macht, aber er hat seine Agenturen, die damit beauftragt werden. An-Nahda bekommt auch aus Katar, Kuwait oder den Vereinigten Arabischen Emiraten mächtige logistische Unterstützung."

"Der Grund dafür ist ein einfacher", meint El-Aouni, der selbst aus Tunesien stammt. "Die Golf-Monarchien wollen nicht, dass die Revolutionen aus Tunesien und Ägypten auf ihre Länder übergreifen. Sie wollen die Revolutionen rückgängig machen, und wenn ihnen das nicht gelingt, wollen sie die Fundamentalisten an die Macht bringen."

Viele Tunesier, die eine Trennung von Staat und Religion wollen, fürchten eine vom Ausland gesteuerte Islamisierung in dem Zehn-Millionen-Einwohner-Land, das etwa Frauen wesentlich mehr Rechte zuspricht als andere Staaten der Region. Die An-Nahda tut derzeit alles, um diesen Ängsten entgegenzutreten. Ihre Vertreter behaupten immer wieder, dass das viele Geld aus Spenden einfacher Tunesier komme. Die Bewegung vergleicht sich gerne mit christdemokratischen Parteien in Europa oder mit der türkischen Regierungspartei AKP. Und Parteichef Rachid Ghannouchi betonte erst am Donnerstag in einem Interview mit der Nachrichtenagentur dpa, dass man etwa gemischte Strände nicht verbieten werde. "Wir wollen nicht, dass sich der Staat in das Privatleben der Menschen einmischt. Wir sind auch dafür, dass die Menschen entscheiden, ob sie ein Kopftuch tragen oder nicht", betonte der 70-Jährige. Seine Partei möchte ein parlamentarisches System errichten.

Kritiker der An-Nahda halten derartige Aussagen aber für ein rein taktisches Manöver, um sich bei breiteren Bevölkerungsschichten beliebt zu machen. Erst einmal an der Macht, werde die An-Nahda demnach ihr wahres Gesicht zeigen.

Worauf die Partei tatsächlich hinaus will, wird sich wohl erst nach der Wahl zeigen. Sie hat jedenfalls eine Regierung der nationalen Einheit angeboten. Mehrere säkulare Parteien, die Chancen auf den Einzug in die Versammlung haben, stehen den Avancen der An-Nahda aber ablehnend gegenüber. Zugleich stieß Ghannouchi vor Journalisten in Tunis aber auch Drohungen aus. Sollte es zu "Manipulationen" kommen, würde man die Massen für Proteste mobilisieren. In diesem Falle würde seine Bewegung, wenn es sein müsse, "zehn Regierungen in Folge stürzen".

Straßenproteste sorgen für angespannte Lage

Ghannouchi, der nach dem Sturz von Ben Ali aus seinem Londoner Exil zurückgekehrt ist, gießt damit Öl ins Feuer. Die Lage in Tunesien ist ohnehin angespannt, immer wieder kam es in den vergangenen Tagen zu Straßenprotesten. Tausende Menschen gingen in Tunis - manche davon mit Klebebändern vor dem Mund - für Meinungsfreiheit auf die Straße. Die Demonstrationen waren eine Antwort auf Ausschreitungen von fundamentalistischen Salafisten. Anhänger der extremistischen Strömung hatten das Haus des Chefs eines Fernsehsenders in Brand gesetzt, nachdem dieser den Film "Persepolis" ausgestrahlt hatte. In dem Animationsfilm wird Gott als alter, bärtiger Mann dargestellt - für manche strenggläubige Muslime ist diese bildliche Darstellung eine Gotteslästerung. Die An-Nahda verurteilte zwar die Gewalt der Salafisten. Gleichzeitig betonte Ghannouchi, dass er das Recht des tunesischen Volkes unterstütze, "diesen Angriff auf seine Religion anzuprangern".

Die Salafisten, die auch schon einmal ein Kino zertrümmert haben, könnten der An-Nahda sowohl nutzen als auch schaden. Einerseits kann sich die An-Nahda als Gegenbild, als moderate, religiöse Alternative präsentieren. Andererseits schüren die Salafisten die Ängste vor einer Islamisierung des Landes, was wiederum genau den säkularen Parteien in die Hände spielen könnte.

Diese setzen teilweise auch genau auf diese Befürchtungen. "Heute haben wir hundert Parteien, aber nur zwei große Strömungen: die Islamisten und die Demokraten", meinte der Chef der liberalen Demokratischen Fortschrittspartei (PDP), Ahmed Nejib Chebbi. Die PDP gilt als liberal, sie war unter Ben Ali als demokratisches Feigenblatt geduldet und könnte nun laut Umfragen zweitstärkste Partei werden. Sonst haben noch Bewegungen mit den unterschiedlichsten Weltbildern Chancen auf den Einzug in die Verfassungsgebende Versammlung: von der An-Nahda abgespaltete Islamisten, Kommunisten oder die Freie Patriotische Union, die bei ihrer Kampagne auf das Vermögen ihres Vorsitzenden, des steinreichen Geschäftsmannes Slim Riahi, zurückgreifen kann.

Aber nicht jeder Tunesier darf zur Wahl antreten: Ausgeschlossen sind etwa 10.000 hochrangige ehemalige Funktionäre der früheren Regierungspartei RCD, die nach dem Sturz Ben Alis aufgelöst wurde. Die alte politische Garde und auch Geschäftsleute, die unter Ben Ali reich wurden, haben aber trotzdem in einigen Bewegungen das Sagen.

Überhaupt liegen die Schatten der Ben-Ali-Zeit auch nach der Revolution noch über Tunesien. Immer wieder tauchen Berichte auf, dass in Haftanstalten bis heute gefoltert wird. Die Internationale Menschenrechts-Föderation hatte etwa im Juli in einer Studie eine Fortsetzung der Folterpraktiken beklagt, wenngleich auf "niedrigerem Niveau". Das Innenministerium sprach von "Resten des alten Regimes" und meinte, dass "Mentalitäten nicht von heute auf morgen geändert werden können". Auch im Justizwesen urteilen oft noch dieselben Richter anhand derselben Gesetze wie unter Ben Ali.

Gute Voraussetzungen für demokratischen Wandel

Politanalysten verweisen aber darauf, dass in kaum einem arabischen Land die Voraussetzungen für einen demokratischen Wandel so gut seien wie in Tunesien. Viele junge Leute sind hervorragend ausgebildet, Tunesien ist industrialisierter als die meisten anderen Länder der Region. Eine tickende Zeitbombe ist allerdings die immens hohe Jugendarbeitslosigkeit, die mehr als 30 Prozent beträgt. Sie könnte bald in Unzufriedenheit mit dem System umschlagen, wenn der demokratische Wandel keine Besserung der Lebensverhältnisse mit sich bringt.

Der Politologe El-Aouni ist jedenfalls "mittelfristig optimistisch". Es mag zwar vielleicht noch zu Unruhen kommen, doch auf lange Sicht werden die antidemokratischen Kräfte das Nachsehen haben. "Diejenigen, die schon gegen Ben Ali auf die Straße gegangen sind, werden sich die Revolution nicht nehmen lassen."