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Die Trauer um den potemkinschen Führer

Von Eva Stanzl

Wissen

Verlust der "Vaterfigur" in einem Land, dessen Volk sonst kaum etwas hat.


Wien. Eine weinende Moderatorin verkündet den Tod von Kim Jong-il im Staatsfernsehen. Mit tränenerstickter Stimme spricht sie von "unvorstellbarer Trauer" um den "geliebten Führer". Wie auf Knopfdruck verzerren sich auch die Gesichter der Zuseher. Sie beginnen zu weinen, zu schreien, zu jaulen, klopfen auf den Tisch und gebärden sich ganz so, als wäre das Trauern ein Wettbewerb. In Pjöngjang fallen Menschen in Kaskaden auf die Knie. "Sie liegen auf der Straße und weinen um ihren Führer", betitelt eine deutsche Tageszeitung einen Bericht zum Tod des nordkoreanischen Diktators.

Ist es ein kulturell eingeübtes Trauerritual, spielen die Koreaner ihren Schmerz und werden fürs Weinen bezahlt oder regiert sie die schiere Angst, ins Konzentrationslager deportiert zu werden, wenn sie zu wenig Anteilnahme am Ableben ihres Diktators zeigen, obwohl dessen Herrschaft mindestens zwei Millionen Menschen das Leben gekostet hat? Immerhin hat die nordkoreanische Polit-Propaganda sich das Feld für ein leichtes Spiel bereitet. Es gibt kein Internet, kein internationales Radio oder Fernsehen, kaum Auswahl selbst bei den grundlegendsten Konsumgütern und schon gar keinen Wohlstand. Ein manipuliertes Volk ist auf seinen Führer als Vaterfigur eingeschworen.

"Das Volk sieht seinen Diktator als Verkünder der Wahrheit, weil es nichts anderes kennt. Der Verlust dieser Wahrheit schmerzt, ebenso wie die Angst vor dem Neuen allgegenwärtig ist", sagt der Wiener Soziologie Roland Girtler. Noch weiß kaum jemand etwas über den Nachfolger Kim Jong-un.

"Die Frage ist, was in einer Kultur als normal gilt", sagt der Peter Schütz, Trauma-Therapeut und Gründer des Österreichischen Trainingszentrums für Neuro-Linguistisches Programmieren. Das nordkoreanische Volk habe etwas verloren, was es als Unterstützung empfinde. "Die Bevölkerung hat kein individuelles Verständnis von sich selbst, sondern ein kollektives, im Rahmen dessen es tatsächlich möglich ist, dass sie einen echten Verlust empfinden, so schwer man sich das hierzulande auch vorstellen kann. Denn diese Menschen haben fast nichts, außer die Möglichkeit, ihre Erregung herauszulassen." In einer Trauertrance auf den Tisch zu klopfen, resultiere aus der Erregung über den Verlust des großen potemkinschen Führers. Hinzu komme eine Kultur des öffentlichen Trauerns.

Heilbringer versus Status quo

Szenenwechsel nach Prag: "Er war ein herausragender Mensch. Außerdem war die Zeit, in der er Präsident war, die schönste Zeit meines Lebens", sagt eine Mittvierzigerin, die auf dem Wenzelsplatz zum Tod des am Sonntag verstorbenen tschechischen Schriftstellers und Politikers Vaclav Havel befragt wird, während sie eine Kerze anzündet. In ihren Augen steht Trauer geschrieben - um den Verlust eines Menschen, einer für sie bedeutsamen Zeit der Geschichte, und wohl ein bisschen auch für sich selbst. Die Menschen, die von Havel Abschied nehmen, sprechen anders darüber als in die nordkoreanische Trauergemeinde. Und sie betrauern wohl eher jemandem, den sie als Heilbringer empfanden, als einen Status quo in der schwarz-weißen Welt eines kulturellen Artefakts.