Zum Hauptinhalt springen

Der Irak kehrt zur Gewalt zurück

Von Georg Friesenbichler

Politik

Nach Abzug der US-Truppen droht das Land im Chaos zu versinken.


Bagdad. Auf den US-amerikanischen Militärflughäfen wird derzeit umarmt und geküsst wie lange nicht - die letzten Soldaten aus dem Irak kehren zurück, um Weihnachten nach Monaten der Abwesenheit bei ihren Familien zu verbringen. Das Land, das sie verlassen haben, droht unterdessen im Chaos zu versinken.

Die Konflikte zwischen der schiitischen Mehrheit und den Sunniten, die das Land nach dem Sturz von Diktator Saddam Hussein zerrissen haben, leben wieder auf - sowohl auf politischer als auch auf terroristischer Ebene. Bei einer offensichtlich koordinierten Anschlagsserie in der Hauptstadt Bagdad, der schwersten seit Monaten, wurden während der Hauptverkehrszeit am Donnerstag mindestens 70 Menschen getötet. Gleichzeitig wurde nördlich der Hauptstadt in der Provinz Diyala eine fünfköpfige Familie erschossen. Der Vater und sein Sohn gehörten zu der sunnitischen Stammesmiliz, die durch Verhandlungen der USA im Kampf gegen die irakische Al-Kaida geformt wurde.

Beobachter fürchten, die Anschläge könnten der Auftakt zu einer neuen Gewaltwelle zwischen den verfeindeten muslimischen Glaubensrichtungen sein. 2006 löste der Anschlag auf ein schiitisches Heiligtum in der Vorstadt Sadr City bürgerkriegsähnliche Unruhen aus mit zahlreichen Selbstmordanschlägen aus.

Die Regierungspolitik ist nicht dazu angetan, die religiösen Spannungen zu lindern, ganz im Gegenteil: Regierungschef Nuri al-Maliki, ein Schiit, der vom benachbarten Iran kräftig unterstützt wird, bemüht sich, die Sunniten aus seiner Regierung hinauszudrängen. Vizepräsident Tarik al-Hashimi wird per Haftbefehl gesucht, weil er Terroranschläge bezahlt haben soll. Die angeblichen Geständnisse seiner Leibwächter wurden im Staatsfernsehen ständig gezeigt. Ein Al-Hashimi-Vertrauter meinte, die Selbstbezichtigungen seien mit Gewalt erpresst worden.

Premierminister Al-Maliki schürt die Spannungen

Al-Hashimi hat sich in den Norden abgesetzt, in das halbautonome Kurdengebiet, dessen Parteienvertreter gleichfalls in der Regierung sitzen. Al-Maliki fordert von ihnen unter dem Hinweis, sonst werde es Probleme geben, die Auslieferung des Vizepräsidenten: "Wir haben dem Diktator Saddam Hussein einen fairen Prozess gemacht, und auch Hashimi soll einen fairen Prozess erhalten", sagte er. Wenn man in Betracht zieht, dass Saddam schließlich hingerichtet wurde, klingt das wie eine Drohung. Al-Hashimi hat angeboten, sich im Kurdengebiet vor Gericht stellen zu lassen.

Auch seinen Vizepremier Salh al-Mutlak, wie Hashimi beim Iraqia-Parteiblock, möchte Al-Maliki loswerden. Er forderte seinen Rücktritt, nachdem ihn Al-Mutlak als Diktator wie Saddam bezeichnet hatte. Weil Al-Iraqiya nach diesen Angriffen die Parlaments- und Kabinettssitzungen boykottiert, drohte der Premier gleich allen neun Ministern des Blocks an, sie aus der Regierung zu werfen und durch Männer seines Vertrauens zu ersetzen.

Diese kaum überbrückbaren Spannungen zwischen den Fraktionen sollten auch bei einer Krisensitzung des Parlaments zur Sprache kommen, die Parlamentspräsident Osama al-Nujaifi nach den Anschlägen am Donnerstag einberufen hatte. Die Regierung war erst nach monatelangen Verhandlungen zustande gekommen, weil sich Al-Maliki nach dem Sieg des säkularen, von den Sunniten unterstützten Al-Iraqiya-Bündnisses bei den Wahlen im März 2010 geweigert hatte, den Premiersposten aufzugeben. Als Al-Maliki schließlich die Unterstützung des einflussreichen Schiitenpredigers Moktada al-Sadr gewinnen konnte, kam vor einem Jahr schließlich die heutige Regierung zustande.

Dass diese jetzt zu zerbrechen droht, sorgt im Westen für Unruhe. EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton zeigte sich noch vor den Anschlägen "äußerst besorgt" und rief zu einem Dialog aller politischen Gruppen auf, wie es zuvor schon US-Vizepräsident Joe Biden getan hatte.