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Erst wenn der Krieg endet, beginnt der Kampf

Von Michael Schmölzer

Politik

Wege ins Gefängnis oder in die Obdachlosigkeit sind vorgezeichnet.


Wien/Washington. Das Meer an Steintafeln auf dem Washingtoner Heldenfriedhof Arlington ist unübersehbar groß, und täglich werden neue Gräber ausgehoben. In Sektion 60 ruhen die Gefallenen der Kriege im Irak und in Afghanistan. Die meisten, die hier liegen, wurden nicht älter als 25 Jahre, an einigen Gräbern kauern Kriegswitwen, die oft selber noch halbe Kinder sind.

Mehr als 6500 US-Soldaten sind nach 2001 in Uncle Sams Rachefeldzügen gestorben, am Hindukusch ist der Einsatz für tausende US-Soldaten noch lange nicht vorbei. Die mächtigste Nation der Welt ist kriegsmüde, niemand formuliert das deutlicher als Barack Obama selbst. "Wir hassen den Krieg", sagt der US-Präsident am Memorial Day, der übliche Hurra-Patriotismus weicht kritischer Selbstbetrachtung. Der Vietnam-Krieg sei eine "Schande" gewesen, erklärt Obama. Was er über die Feldzüge im Irak und in Afghanistan denkt, behält er für sich.

225.000 Kriegstote, die meisten sind Zivilisten

Washington will das Kapitel Krieg so schnell wie möglich hinter sich lassen, die Kosten der militärischen Unternehmungen sind gigantisch. US-Ökonomen haben errechnet, dass die Feldzüge im Irak und in Afghanistan mit 4 Billionen Dollar zu Buche schlagen, die von den USA aufgenommenen Kredite werden die Steuerzahler noch lange belasten. Ganz zu schweigen von den 225.000 Menschen, die unmittelbar oder in direkter Folge der Kriege getötet wurden. Die überwiegende Mehrheit der Opfer sind irakische und afghanische Zivilisten.

Auch die USA werden noch lange an die letzten Kriege denken, allein die Behandlungskosten für verwundete Kriegsveteranen gehen in die Milliarden. Ganz zu schweigen von den massiven sozialen Problemen, die durch die Kriegsheimkehrer entstehen.

Die Veteranen, die bei jeder Gelegenheit als Helden der Nation geehrt werden, haben in Wirklichkeit ganz schlechte Karten. 140.000 Ex-Soldaten büßen Haftstrafen in Bundes- und Staatsgefängnissen ab, weit mehr als die Hälfte davon kämpfen mit massiven Drogenproblemen. 25 Prozent der Obdachlosen - insgesamt 107.000 - sind Kriegsveteranen, die Selbstmordrate ist enorm hoch. In den vergangenen zehn Jahren haben sich 2700 aktive Soldaten das Leben genommen, der Vietnam-Krieg hat die meisten Todesopfer erst nach seinem Ende gefordert. 18 Veteranen pro Tag bringen sich um, so das United States Department of Veterans Affairs.

In den USA leben 23 Millionen Kriegsveteranen, laut dem Interessenverband Iava haben 2,3 Millionen US-Soldaten in Afghanistan und im Irak gedient. Psychiater gehen davon aus, dass ein Drittel dieser Ex-Soldaten in irgendeiner Form an einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTSD) leidet. Die Betroffenen haben Schlafstörungen, Panikattacken, oft reagieren sie aggressiv auf ihre Umwelt. Bei manchen treten diese Symptome nur innerhalb eines beschränkten Zeitraums auf und verschwinden dann. Bei vielen werden die Beschwerden aber chronisch und verfestigen sich zu Persönlichkeitsveränderungen. Die Opfer ziehen sich zurück, sind nicht mehr in der Lage, die Realität wahrzunehmen, greifen zu Drogen und Alkohol. Viele PTSD-Patienten leiden unter einem Zustand permanenter Anspannung, der Körper ist in einem ständigen Alarmzustand. Die Folgen der Krankheit sind dramatisch, viele verlieren ihren Job, werden straffällig, begehen Selbstmord.

Im Pentagon ist man sich des Problems bewusst. 3,3 Milliarden Dollar sind im Verteidigungsetat für die Behandlung schwer traumatisierter Soldaten vorgesehen, die Hilfsangebote sind umfassend. Immer gründlicher werden die Einheiten auf Kampfeinsätze vorbereitet, die Ursachen der Soldatenkrankheit sind gut erforscht. Trotzdem breitet sich PTSD wie eine Seuche aus. Das auch deshalb, weil sieben von zehn US-Soldaten mit seelischen Verwundungen nicht professionelle Hilfe aufsuchen. Dahinter steht die Angst, als Schwächling abgestempelt zu werden. Viele Soldaten befürchten, ausgemustert zu werden und ihren Lebensunterhalt zu verlieren.

Auf der anderen Seite müssen Kriegsheimkehrer, die Hilfe wegen psychischer Probleme suchen, oft monatelang auf einen Termin warten. Für manche kommt dann jede Hilfe zu spät. Für rund 550.000 Soldaten der US-Armee gibt es nur 400 Psychiater. Fehlen Zeit und Personal für aufwendige Therapien, werden Pillen verschrieben.

Fatale Zange: Wenn Kampf und Flucht unmöglich sind

Die Entstehung und Wirkung von Traumata sind von der Wissenschaft mittlerweile gut erforscht: "Entscheidend ist, dass ein Ereignis eintritt, das den üblichen Erlebnisrahmen sprengt", erklärt Peter Zimmermann, Chef des Traumazentrums der deutschen Bundeswehr in Berlin. Andere Ärzte sprechen davon, dass die Psyche von einem Reiz-Tsunami "überschwemmt" wird. Zimmermann hat Bundeswehrsoldaten behandelt, die den Afghanistan-Einsatz nur äußerlich unbeschadet überstanden hatten. "Zu den wichtigsten Stressfaktoren zählen Kampfhandlungen und Anschläge. Wer Zeuge wird, wie unbeteiligte Zivilisten qualvoll sterben, kann ebenfalls geschädigt werden", sagt Zimmermann zur "Wiener Zeitung".

Für den Psychiater Ulrich Schnyder in Zürich findet sich im Kern jeder Traumatisierung "die Erfahrung völliger Ohnmacht": "Es passiert mir, und ich kann nichts dagegen tun", sagt Schnyder.

Der Psychotherapeut Lutz-Ulrich Besser hat den Begriff der "Traumatischen Zange" geprägt: Wenn der Soldat Todesangst hat, einerseits nicht kämpfen, andererseits nicht die Flucht ergreifen kann, dann ist die Gefahr einer extremen Traumatisierung groß.

"Thousand yard stare" - das Grauen in den Augen

Was das für einen Soldaten bedeutet, der im Afghanistan-Einsatz ist oder im Irak war, kann man nur mutmaßen. Am Hindukusch ist der Feind oft unsichtbar, die Taliban kämpfen aus dem Hinterhalt. Die meisten US-Soldaten, die im Irak gefallen sind, wurden von Sprengfallen am Wegrand in den Tod gerissen. Die Belastung für die Kameraden ist extrem hoch: Psyche und Körper sind in permanenter Anspannung und Erwartung einer Detonation, die plötzlich aus dem Nichts und mit enormer Wucht über die GIs hereinbricht.

Nicht direkt vergleichbar, aber ebenfalls psychisch vernichtend waren die Erfahrungen, die Soldaten im Ersten Weltkrieg machten. Über lange Zeiträume waren sie in Schützengräben feindlichem Artilleriefeuer ausgesetzt, in der Folge traten "Kriegszitterer" auf, die nach Angriffen wie von Schüttelfrösten gebeutelt und häufig als "Feiglinge" an die Wand gestellt wurden.

Fotografisch dokumentiert sind Fälle von "shellshock", in denen Betroffene teilnahmslos und starr in die Ferne blicken, der "thousand-yard-stare". Dieses Symptom wurde auch bei GIs im Irak beobachtet, vor allem 2003 und 2004 bei den Kämpfen in Falludjah. Der ausdruckslose Blick in die Ferne gilt als Anfangsstadium einer schweren Traumatisierung.

Die Wiener Psychotherapeutin Barbara Preitler vom Betreuungszentrum Hemayat unterstreicht, dass es "in Situationen der Hilflosigkeit", etwa, wenn jemand Folter ausgesetzt ist, "zu Extremtraumatisierung kommt". Sie weist zudem im Gespräch mit der "Wiener Zeitung" darauf hin, dass das Bewusstsein, in dem ein Soldat kämpft, von Bedeutung ist: "Wenn ich der Ansicht bin, dass ich ein Opfer für ein größeres Ganzes bringe, ist die Gefahr einer chronischen seelischen Erkrankung geringer", sagt Preitler und erinnert an die Großväter-Generation, die für Hitler in den Krieg zog.

Das Gegenteil ist der Fall, wenn etwa der "Kampf gegen das Böse" mit der Zeit fraglich wird, wie nach Ende des Zweiten Weltkriegs, aber auch bei den US-Feldzügen in Afghanistan oder im Irak. Wichtig ist zudem, wie der Krieg, aus dem der Veteran heimkommt, im Nachhinein gesellschaftlich bewertet wird. "Wenn vom Feldzug nur eine peinliche Erinnerung übrig bleibt, ist das für die Veteranen natürlich belastend", meint Preitler und verweist auf den Vietnam-Krieg.

Das Wichtigste für Kriegstraumatisierte ist ein "stabiles, soziales Umfeld", sind sich Psychologen einig. Die Betroffenen müssen sich nach überstandener Tortur "sicher fühlen können". Tendenziell guten Schutz gegen Ausbildung eines Traumas bilden eine stabile Familie, eine gute Beziehung, verlässliche Freunde.

Gerade dieses "sichere soziale Umfeld" ist es aber, das traumatisierte Kriegsheimkehrer schrittweise verlieren - es ist ein Drama, das sich tausendfach nach dem gleichen Muster abspielt: Dem Traumaopfer, so beschreibt es das psychotherapeutische Lehrbuch, wird nach der Rückkehr aus dem Krieg zunächst Sympathie und Verständnis entgegengebracht.

Doch der Veteran zieht sich zurück und verhält sich eigenartig. Das Wohlwollen der Umgebung schwindet, es folgen Ungeduld, Irritation und Vorwürfe. Später wird der Traumatisierte sogar aufgefordert, sich für sein Verhalten zu schämen, es folgt die soziale Ausgrenzung. Scheidungen werden eingereicht, Kündigungen ausgesprochen, nicht selten landet der Betroffene auf der Straße. Zuletzt ist der Erkrankte Angriffen und Aggression ausgesetzt, wird als "asozial, kriminell, arbeitsscheu" abqualifiziert. Der Kranke reagiert seinerseits hochgradig aggressiv, wird straffällig oder richtet die Gewalt gegen sich selbst - verfällt dem Alkohol, Drogen oder begeht in letzter Konsequenz Selbstmord.

Heilung durch "geschütztes Wiedererinnern"

Heute gibt es effiziente Methoden, wie Menschen mit PTSD behandelt werden können. Als besonders wirksam hat sich die Konfrontationstherapie herausgestellt, die wiederum speziell für die Behandlung von Kriegstraumatisierten verändert wurde. Dabei soll sich der Betroffene durch Wiedererinnern unter Aufsicht eines qualifizierten Arztes an die traumatische Situation gewöhnen. Das Eye Movement Desensitization and Reprocessing (EMDR) ist eine Methode, die speziell für die Traumabehandlung entwickelt wurde. Dabei wird der Betroffene in einem geschützten Rahmen durch Gespräche an die traumatisierende Situation herangeführt. Beim Erinnern soll durch schnelle Änderungen der Blickrichtung oder eine anderen Form der abwechselnden Stimulation der beiden Gehirnhälften eine Integration des Erlebten erreicht werden.

Bundeswehrpsychiater Zimmermann erklärt, was das konkret bedeutet: "Zunächst schauen wir uns den Traumareiz an. Wenn der Patient an die Situation herangeführt wird, überkommen ihn Angst und Panik. Der Arzt bewegt dann seinen Finger vor den Augen des Soldaten von links nach rechts. Dabei werden psychische Verarbeitungsreflexe aktiviert, so ähnlich wie im Schlaf in der REM-Phase auch die Erlebnisse des Tages verarbeitet werden."

Die Erfolgsquote dieser Behandlung ist hoch, sie liegt laut Zimmermann bei 80 Prozent. "Dabei ist klar, dass der Betroffene nie wieder so wird, wie er früher gewesen ist."

Ziel der Behandlung ist es vielmehr, dass der Patient das Erlebte integriert. Die Selbstmordrate in der Bundeswehr ist mit 20 bis 30 Toten pro Jahr jedenfalls "sehr niedrig", vor allem im Vergleich zur US-Army.

Mit 3D-Brille gegen Panikattacken

Eine weitere Behandlungsmethode, die in einigen hochmodernen US-Traumatherapiezentren zur Anwendung kommt, greift auf spezielle 3D-Brillen zurück. Die Soldaten sollen mithilfe beruhigender Traumbilder aus ihren Horrorvisionen geholt werden. Vermehrt werden bei der Therapie Computer eingesetzt. Albert Rizzo von der University of Southern California in L.A. unterzieht Traumatisierte einer EDV-unterstützten Konfrontationstherapie. Dabei wird der Patient via Bildschirm mit angstauslösenden Reizen konfrontiert und lernt, diese mit Unterstützung durch den Therapeuten zu bewerten.

Von vielen Psychologen wird Tetris, ein beliebtes Computerspiel aus den 1980er Jahren, bei dem Bauklötze ineinander gestapelt werden, als wahre Wunderwaffe gegen PTSD gehandelt. Flashbacks würden durch Tetris reduziert, heißt es, das Computerspiel sei "eine geistige Impfung" gegen Trauma, wie eine Studie der Universität Oxford behauptet. Tetris müsse sechs Stunden nach dem traumatischen Erlebnis gespielt werden, dann trete die gewünschte Wirkung ein.

In diesem kurzen Zeitfenster wird entschieden, ob ein traumatisches Erlebnis langfristig gespeichert wird. In der Realität ist es freilich kaum möglich, gerade dann Tetris zu spielen. Studienleiterin Emiliy Holmes ist jedenfalls überzeugt: "Tetris verhindert, dass das Erlebnis als traumatisches gespeichert wird. Die Aufmerksamkeit wird einfach umfokussiert."

Wissen: Trauma-Störung PTSD

Die posttraumatische Belastungsstörung (Posttraumatic Stress Disorder - PTSD) ist Folge eines psychischen Schocks, der durch ein Ereignis ausgelöst wird, das außerhalb der üblichen Lebenserfahrungen liegt. Dazu zählen das Erleben von körperlicher oder seelischer Gewalt, Naturkatastrophen wie Tsunamis - und Kriegserfahrungen. Hat der Betroffene das Gefühl von Hilf- und Ausweglosigkeit, ist die Gefahr einer nachhaltigen Traumatisierung besonders groß. Die Krankheit ist durch verschiedene Symptome gekennzeichnet: Es kommt zu plötzlichen Erinnerungsschüben an das traumatische Erlebnis (Flashbacks, Alpträume). Dazu kommt der ständige Versuch, Trauma-Auslösern aus dem Weg zu gehen. Bestimmte Personen, Orte oder Situationen werden vermieden, das kann zu einer Einschränkung der Alltagsbewältigung führen. Außerdem treten Übererregungssymptome wie Schlaflosigkeit, Schreckhaftigkeit, Konzentrationsschwäche, Zittern, emotionale Taubheit mit Rückzug und Teilnahmslosigkeit auf. Es kann zu übersteigerter Aggression kommen. Die Symptome treten oftmals zeitverzögert nach Monaten oder Jahren erstmals auf.

Bei der Therapie wird der Patient im Idealfall in eine sichere Umgebung gebracht, in der keine weitere Traumatisierung erfolgen kann. Dann kommen Entspannungsverfahren zum Einsatz, der Patient wird beruhigt und gestärkt. In der Frühtherapie können vom Arzt Antidepressiva verschrieben werden, um Schlafstörungen und Angsterleben zu verhindern. Später wird die direkte Trauma-Bearbeitung in Angriff genommen. Dabei kommen verschiedene Verfahren in Betracht, zuletzt hat sich die im obigen Hauptartikel beschriebene EMDR-Methode als besonders erfolgversprechend etabliert.