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"Die Regierung muss die Terroristen vertreiben"

Von Thomas Seifert aus Damaskus

Politik

Eine Reportage aus dem ehemals heftig umkämpften Viertel Midan in Damaskus.


Damaskus. Die Spuren der Zerstörung sind noch überall sichtbar: Einschusslöcher an den Wänden, Rollläden, von Granatsplittern perforiert, geborstene Fensterscheiben, geknickte Verkehrsschilder und eingestürzte Wohnhäuser. Die Moschee an der Zufahrt ins Damaszener Viertel Midan ist beschädigt, an einem Armeeposten kontrollieren Soldaten jedes Fahrzeug, das ins Viertel hinein oder hinaus fährt.

Der Bezirk Midan, seit langem eine der Hochburgen der Opposition in Damaskus gegen das Regime des syrischen Präsidenten Bashar al-Assad, war eines der Hauptziele einer Rebellenoffensive ab 15. Juli 2012. Die Operation "Damascus Volcano" sollte das Momentum im Ringen um die Herrschaft in Syrien zugunsten der Rebellen verschieben und dem Machtapparat die Stärke der Aufständischen demonstrieren. Doch bereits am 20. Juli gelang es der Armee, den Bezirk wieder unter ihre Kontrolle zu bringen.

Heute wird in Midan gehämmert und gebohrt, die Bewohner haben sich daran gemacht, aufzuräumen und ihre Häuser, Wohnungen und Geschäfte zu reparieren. Was vor eineinhalb Monaten hier passiert ist, ist aus Gesprächen mit den Bewohnern schwer zu rekonstruieren. Ein 22-jähriger Computertechnikstudent legt bei den Reparaturarbeiten am familieneigenen Lebensmittelgeschäft Hand an. "Plötzlich waren überall Mitglieder bewaffneter Gruppierungen. Da haben wir - meine Familie und ich - uns entschlossen zu fliehen", erzählt er, "keine Ahnung, was dann passiert ist. Die Armee hat sie jedenfalls nach ein paar Tagen wieder vertrieben." Doch warum sind die Mitglieder der "Freien Syrischen Armee" (FSA) damals, Mitte Juli, ausgerechnet in Midan eingesickert? "Sie haben nicht damit gerechnet, dass die syrische Armee hier - mitten in Damaskus - mit Artillerie und Panzern gegen sie vorgehen würde. Doch da haben sie sich getäuscht." Das Ergebnis: Viele Häuser des Viertels liegen in Trümmern, hunderte Menschen - Zivilisten und Bewaffnete auf beiden Seiten - haben ihr Leben verloren. Jetzt ist das Viertel sicher, die syrische Armee hat die bewaffneten Aufständischen aus Midan vertrieben.

"Eine Riesenverschwörung"

Ein paar Häuser weiter an der Zaid Bin Said-Straße, im Gewirr der verwinkelten Gassen des Viertels, sitzen ältere Männer auf Plastiksesseln bei Tee und Kaffee. Es duftet nach Kardamom. Auch Faiz (60) und Ziad (54) sagen, sie wüssten nicht genau, was sich hier bei den Kämpfen zugetragen habe. "Diese Kämpfer waren nicht aus unserem Viertel, wir hatten mit denen nichts zu tun", stellt Faiz klar. "Früher war Syrien eines der sichersten Länder der Welt. Man konnte mitten in der Nacht quer durchs Land fahren und musste nichts und niemanden fürchten. Heute wäre so eine nächtliche Reise brandgefährlich", ergänzt Ziad, der bei einem Baustoffunternehmen arbeitet.

Dessen Geschäfte müssten eigentlich angesichts der Zerstörungen in der Stadt blendend laufen, arbeitet Ziad doch bei einer Kriegsgewinnler-Firma, so die mit ironischem Unterton gestellte Frage. Doch weit gefehlt, meint Ziad und lacht bitter: "Schön, wenn’s so wäre!" Schon seit einiger Zeit gebe es keine Arbeit mehr und er lebe nur noch von seinen Ersparnissen. Es soll alles wieder werden, wie es früher einmal war, "wir brauchen Sicherheit und Stabilität, die Regierung muss die Terroristen vertreiben", meint er.

Die FSA-Kämpfer bekämen nur Geld von Hamad bin Khalifa Al Thani, dem Emir von Katar, den USA und Israel. "Die kämpfen für Dollars", meint er - in Damaskus hört man das immer wieder: "Eine Riesenverschwörung." Israel sei für den Aufstand verantwortlich, der Westen - vor allem die USA, die Türkei, Katar und Saudi-
Arabien. Dass Israel die Destabilisierung des Assad-Regimes aus Angst vor Problemen am Golan alles andere als bejubelt hat und die USA sowie die Türkei sich aus Angst, Al-Kaida-Sympathisanten mitzufinanzieren, mit ihrer Hilfe an die FSA zurückhalten, kümmert jene, die so argumentieren, wenig. Westliche Beobachter sind nämlich zunehmend beunruhigt über das Einsickern von radikalislamischen Jihadis aus dem Irak und der arabischen Halbinsel.

Tatsächlich trägt der Konflikt in Syrien aber Züge eines Stellvertreterkriegs zwischen dem Iran und den Golf-Staaten, die die Achse Teheran-Bagdad-Damaskus-Beirut brechen wollen. Das Regime in Damaskus kann dabei auf iranische und russische Hilfe zählen, die Opposition auf Saudi-Arabien und Katar.

Doch im Schwarz-Weiß des Stellvertreterkriegsarguments gehen die Nuancen verloren: Die Rebellion ist vor allem hausgemacht. Jeder Eskalationsschritt des Sicherheitsapparates hat dem Aufstand willige Rekruten zugetrieben. Die Rebellion hat sich von der Provinz in Daraa, Hama und Homs auf die Metropolen Aleppo und Damaskus ausgeweitet. Und das Regime hat es von Anfang an verabsäumt, mit diesen mehrheitlich aus den unterentwickelten ländlichen Gebieten stammenden und mit der Rebellenarmee FSA sympathisierenden Syrern in einen Dialog zu treten und die Wurzel ihrer Frustration, die manche auch selbst zu den Waffen greifen ließ, anzupacken.

Massar Mhanna, ein 22-jähriger Juwelier auf dem Markt von Midan, erzählt im von der Mittelschicht bewohnten und von den Kämpfen im Juli unberührt gebliebenen Ahmad-Bin’Issa-Viertel dass die FSA-Guerilla den Bürgern hier versichert habe: "Wir kämpfen für euch!" Ob er dem Glauben geschenkt hat? Er zuckt bloß mit den Achseln.

Die Realität: Ego-Shooter

Über dem Softwareladen von Hussam - er will nur seinen Vornamen nennen - donnern die Autos der Almotahalik-Aljanobi, der Südosttangente von Damaskus. Hussam ist ein typischer Vertreter der modernen Mittelschicht, die im syrischen Konflikt zwischen die Fronten geraten ist. Angehörige dieser Schicht waren zutiefst frustriert über die weitverbreitete Korruption und Inkompetenz des Regimes, was viele dazu brachte, am Anfang an Anti-Assad-Demonstrationen teilzunehmen. Mit dem gewaltsamen Aufstand will aber nun kaum ein Vertreter der aufgeklärten Mittelschicht mehr etwas zu tun haben.

Der religiöse Fanatismus, der für einen Teil der FSA-Guerilla ein Hauptmotiv im Kampf gegen das Regime ist, schreckt das eher säkulare Bürgertum ab. Und wer in Syrien etwas zu verlieren hat - etwa wie Hussam ein Softwaregeschäft - stößt sich daran, dass die Opposition bis heute keinen klaren Plan für ein von den Rebellen unterstütztes Regime nach Assad vorgelegt hat.

Hussam beklagt sich über "the situation", wie fast jeder englischsprachige Syrer die Zustände im Land seinen ausländischen Gesprächspartnern gegenüber euphemistisch beschreibt. "The situation", so beschrieben auch im Irak die Einheimischen ausländischen Journalisten, Diplomaten und Helfern ihren Alltag am Höhepunkt des dortigen Bürgerkrieges, wo es jeden Tag gleich mehrere Massaker gab und Milizen auf allen Seiten des Konfliktes gnadenlosen Terror ausübten.

Derselbe Euphemismus ließ die Menschen in Nordirland von "troubles" sprechen, als sei der Bürgerkrieg zwischen Katholiken und Protestanten kaum lästiger als schlechtes Wetter. Dabei starben täglich Menschen durch Bomben und Attentate.

Doch Syrien droht eine weitere Ausdünnung der Mittelschicht, deren Mitglieder ohnehin schon seit vielen Jahrzehnten jährlich zu Tausenden dem Land den Rücken kehren. Aus Hussams müden Augen spricht die Sorge um seine beiden kleinen Kinder und seine Frau. Auch er spielt mit dem Gedanken, für sich, seine Frau und seine beiden Kinder eine neue Zukunft in Ägypten oder im Libanon aufzubauen.

Wenn man den Blick auf die Wand hinter Hussam richtet, erkennt man im Verkaufsregal die Covers von Kriegsspielen und sogenannten Ego-Shootern wie "Ghost Recon", "Call of Duty" oder "Medal of Honor". In all diesen Computerspielen geht es darum, sich als Soldat auf einem feindlichen Gefechtsfeld zu bewähren. Doch wer braucht schon einen Ego-Shooter in Syrien, wenn all dies auch in der Realität zu haben ist . . .



Thomas

Seifert

Der Ressortchef Ausland der "Wiener Zeitung" berichtet aus dem syrischen Krisengebiet. Mehr zum Thema im Internet: www.wienerzeitung.at/arabischerevolution_nahost