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"Big-Bang" - Wer wagt, verliert?

Von WZ-Korrespondentin Judith Francorsi

Politik

Proteste gegen Supermärkte bringen die Regierung von Premier Singh unter Druck.


Bombay. Wie Phoenix aus der Asche ist Regierungschef Manmohan Singh am "Big-Bang Freitag" (von der heimischen Presse so genannt) wiederauferstanden. Singh möchte gleich in mehreren Bereichen Wirtschaftsreformen umsetzen, doch seiner größten Koalitionspartnerin Mamata Banerjee, Regierungschefin von West-Bengalen und Parteichefin des Trinamool, ist der Boden unter den Füßen zu heiß geworden. Vier Staatsunternehmen sollen teilprivatisiert, der Einzelhandel, Energie-, Luftfahrt- und Rundfunksektor für ausländische Direktinvestitionen geöffnet und Subventionen für Kochgas und Diesel reduziert werden.

Für die Ärmsten des Landes eine Katastrophe: Nach Angaben der Weltbank müssen in Indien 320 Millionen Menschen mit weniger als einem Dollar am Tag auskommen. Sie werden von der Reduzierung der Subventionen am stärksten betroffen sein. Wohlfahrtsprogramme, wie Subventionen für Kochgas, spielen in Indien bei Wahlen eine große Rolle. Die vorgesehene Reduzierung von nunmehr neun subventionierten Kochgas-Zylindern auf sechs sei ein Bruch des Wahlversprechens, so Mamata Banerjee, Parteivorsitzende der Trinamool-Partei. Banerjee warnt davor, dass Singh mit den Reformen "die Nation in zwei Teile" teilt.

Ein weiteres heiß diskutiertes Thema betrifft die Öffnung des Einzelhandelssektors. Gewerkschaften und Menschenrechtsorganisationen warnen seit einem halben Jahrzehnt vor der Ansiedlung ausländischer Supermarktketten (wie Wal-Mart, Carrefour und Tesco), die für viele mittelständische Gemischtwaren-Läden das Todesurteil bedeuten könne. Denn wenn jemand Einkommen und Existenzgrundlage verliert, dann ist er sich selbst überlassen. Der in Mumbai praktizierende Menschenrechtsanwalt Vinod Shetty warnt, "die Politik dürfe nicht die Existenzgrundlage der Armen aufs Spiel setzen". Die Regierung behauptet jedoch, dass die Öffnung des Einzelhandels die Nahrungsmittelindustrie modernisieren könne.

Tatsächlich steht es um diese schlecht, auf der einen Seite vergammeln Tonnen von Weizen, auf der anderen Seite schießen die Nahrungsmittelpreise immer weiter in die Höhe.

Außerdem, so Finanzminister Chidambaram, überlasse man den Unionsstaaten das letzte Wort. Viele Staaten begrüßen die Öffnung des Einzelhandels, sind überzeugt davon, dass indische Landwirte von den Supermarktketten, deren Kühlkammern über riesige Kapazitäten verfügen, profitieren können. Was die Öffnung des Einzelhandels betrifft, musste Singh schon zweimal einen politischen Rückzieher machen.

Abschied vom Wachstum?

Doch diese Woche ist seine Botschaft an das Volk klar: Wenn jetzt nicht alle an einem Strang ziehen, dann könne man sich von einem zweistelligen Wirtschaftswachstum endgültig verabschieden. Sollte Trinamool-Parteichefin Banerjee - gleichzeitig Regierungschefin von West-Bengalen - tatsächlich der Regierung den Boden entziehen, dann braucht Manmohan Singh für eine Mehrheitsregierung die Unterstützung der regionalen Parteien. Dazu gehört die in Uttar Pradesh, Indiens bevölkerungsreichsten und ärmsten Unionsstaat regierende Samajwadi Partei (SP). Sie kann für die Kongresspartei jedoch kein Wunschpartner sein, schließlich pflegt sie enge Kontakte zu kriminellen Banden und hat außerdem dem Jungstar der Kongresspartei, Rahul Gandhi, bei den letzten regionalen Wahlen besiegt.

Von vielen Seiten gab es diese Woche auch Lob für das kühne Wirtschaftsreformpaket, das Singh kurz vor dem Wochenende verabschiedete. Die Regierung verspricht sich mit diesem Urknall eine dringend notwendige Ankurbelung der Wirtschaft. Das Land bekommt die hohe Inflation nicht in den Griff. Nahrungsmittel-und Benzinpreise schießen immer weiter in die Höhe. Das Wirtschaftswachstum hat sich beträchtlich verlangsamt.

Teile der Mittelschicht nehmen die Reformen mit Begeisterung auf und freuen sich auf neue Chancen und Produkte.

Auch der von der Oppositionspartei, der hindu-nationalen Bharatiya Janata Partei (BJP) organisierte Generalstreik lähmte die Nation nicht. In vielen Unionsstaaten wurde überhaupt nicht gestreikt. Auch in Indiens Wirtschaftsmetropole Mumbai nicht, wofür die hindu-nationale Shiv Sena und MNS Partei gesorgt hat. Die größte Oppositionspartei hat ihr Bestes versucht, einen Nutzen aus dieser Situation zu ziehen. Wochenlang forderte sie den Rücktritt des Regierungschefs, doch heute spricht niemand mehr über die jüngste Korruptionsaffäre in der Kohleindustrie. Außerdem ist es weithin bekannt, dass auch die BJP in manchen Unionsstaaten die Öffnung im Einzelhandel durchaus unterstützt.

Zweifelsohne ist es Singh mit diesem Reformpaket gelungen, die Opposition zu deklassieren.

Koalitions-Krach

Das größere Problem als die Opposition scheint tatsächlich die Desertion vom bisherigen Koalitonspartner Mamata Banerjee zu sein. Sonia Gandhi, die sozial gesinnte Vorsitzende der Kongresspartei versucht zwar, die Wogen in der Koalition zu glätten. Doch Banerjee scheint sich nicht besänftigen zu lassen. Nach einer dreistündigen Parteisitzung in Kalkutta verkündete eine sichtlich verärgerte Mamata Banerjee, alle Minister aus dem Parlament abzuziehen, da die Trinamool-Partei die "menschenfeindlichen Reformen der Regierung" nicht unterstützen könne. Überhaupt habe der Regierungschef mit den drastischen Reformen nur seine internationalen Kritiker zum Schweigen bringen wollen, dabei aber nicht an den ,aam admi‘, den einfachen Mann gedacht. Dass Indien in den öffentlichen Haushalten eine Bonitätsherabstufung auf "Ramsch-Status" drohe, das interessiere auf den indischen Dörfern doch keinen. Was das überhaupt sei, eine Bonitätsherabstufung, fragt ein Sprecher der Trinamool zynisch. Regierungschef Singh ist offensichtlich bereit, Mamata Banerjee entgegenzukommen. So hat er versprochen, den Abbau der Subventionen für Kochgas und Dieselpreise noch einmal zu überdenken. Doch bei der Öffnung des Einzelhandels lässt er sich nicht beirren. Sollte er deswegen tatsächlich seine wichtigste Koalitionspartnerin verlieren, stehen vielleicht doch bald vorgezogene Neuwahlen vor der Tür. Doch so richtig kampfbereit scheint derzeit keine Partei zu sein, auch nicht die amtierende Kongresspartei.