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Mit dem Libanon steht das nächste Pulverfass vor der Explosion

Von Arian Faal

Politik

Ausschreitungen und Chaos in Beirut nach Mord an Sicherheitschef Hassan.


Beirut/Damaskus/Teheran.

Der jüngste Anschlag auf den libanesischen Sicherheitschef General Wissam al Hassan verdeutlicht das Eskalationspotenzial der Konfliktherde im Nahen Osten. Wie eine Seuche, die sich rasant und unabhängig von Grenzen verbreitet, hat die Syrienkrise sich in den Libanon, in dem Schiiten, Sunniten und Christen leben, ausgebreitet. In Beirut, wo vor wenigen Wochen noch Papst Benedikt XVI. einen Friedensappell an die Region richtete, wurde das Begräbnis von Sicherheitschef Hassan, der Opfer eines Attentats geworden war, zu einem Sinnbild des politischen Zorns. Massendemonstrationen gegen den Terror und gegen das syrische Regime, dem viele Leute den Mord anlasten, prägten in den vergangenen drei Tagen das Beiruter Stadtbild.

Die Ermordung von Hassan - und sieben weiteren Personen - ist auch deshalb heikel, weil der Sicherheitschef eine Schlüsselfigur in der regionalen Politik war. Er war es, der Verstrickungen des Regimes des syrischen Präsidenten Bashar al-Assad in mehrere Anschläge im Libanon aufgedeckt hatte, darunter auch den Mord an Premierminister Rafik Hariri im Jahr 2005.

Ein Libanese macht seinem Unmut im Gespräch mit der "Wiener Zeitung" Luft: "Es geht um sieben Jahre Terror und Unterdrückung, die wir durch das syrische Regime tagtäglich erfahren. Jetzt ist das Fass voll, das libanesische Volk fordert den Rücktritt der Regierung."

Im Fokus der Kritik steht Premier Najib Mikati. Die Bevölkerung wirft ihm zu enge Beziehungen zum syrischen Präsidenten Bashar al-Assad vor. Schon vor dem Anschlag, bei dem am Freitag auch über 120 Menschen verletzt wurden, hatten sich in der Stadt Tripoli Sunniten und Alawiten Kämpfe geliefert. 66.915 Syrer sind laut dem UN-Flüchtlingshochkommissariat (UNHCR) vor der Gewalt in der Heimat bereits in das Nachbarland Libanon geflohen.

Schüsse, Chaos und Sturm auf das Büro des Premiers

Auf den Straßen Beiruts herrschte in den vergangenen Tagen Chaos, und es wurde sogar geschossen. Und während die Bilder rund um das Begräbnis von Hassan, im Zuge dessen einige Demonstranten versuchten, das Büro des Premierministers zu stürmen, um die Welt gingen, war die Regierung unter Premier Najib Mikati bereit zurückzutreten. Sie blieb aber auf Ersuchen des Staatspräsidenten Michel Sulaiman vorerst im Amt, um eine weitere Eskalation zu vermeiden. Das Schreckgespenst "neuer Bürgerkrieg" wohl im Hinterkopf, rief die Opposition die Libanesen auf, sich ruhig zu verhalten. Nachsatz: "Lasst bitte nicht zu, dass unser Land noch mehr in Mitleidenschaft gezogen wird."

Oppositionschef Saad al-Hariri forderte zwar den Rücktritt der Regierung, dieser solle aber friedlich erfolgen. Ex-Premier Fuad al-Siniora verlangte ein Ende der gewalttätigen Ausschreitungen und verurteilte den Versuch, Regierungsbüros zu stürmen, als "inakzeptable" Vorgangsweise. An Gesprächen zur Beilegung des laufenden Konflikts sei die Opposition Siniora zufolge allerdings erst nach dem Rücktritt der amtierenden Regierung bereit.

Nach dem weltweit verurteilten Attentat hat die Regierung bewaffnete Spezialeinheiten in Beirut abgestellt und die Sicherheitsvorkehrungen an strategisch wichtigen Plätzen verstärkt.

Für die Sunniten ist die Affäre rund um die Ermordung Hassans noch lange nicht ausgestanden. Zum Zeichen ihres Protests gegen die Tötung ihres Glaubensbruders Hassan steckten sie in den vergangenen Tagen Autoreifen in Brand, blockierten die Zufahrt zum internationalen Flughafen in Beirut und sperrten Straßen in der nordlibanesischen Hafenstadt Tripoli. Auch am heutigen Dienstag sind Proteste geplant.

Die jüngsten Ereignisse im multireligiösen Libanon bringen das Dilemma in der Region deutlich zum Vorschein. Längst geht es nicht mehr um den Kampf zwischen den tief zerstritten Anhängern und Gegnern des syrischen Präsidenten Bashar al-Assad. Die Makroebene des Konflikts heißt Schiiten gegen Sunniten. Die zentrale Frage hierbei: Wer hat in der Region die Vormacht? Die sunnitische Mehrheit unter der Federführung Saudi-Arabiens oder der Iran, der seinen schiitischen Halbmond mit verbündeten Staaten und Politikern (siehe Grafik und Kasten) seit Jahren forciert?

Syrien mischt schon lange im Libanon mit

Viele Schiiten im Libanon unterstützen den ihrer Konfession nahestehenden Alawiten Assad, die meisten Sunniten hingegen stehen auf der Seite seiner Gegner. Syrien hatte - mit der Unterstützung des Iran - jahrzehntelang die Rolle einer Vormacht im Libanon gespielt. Auch lange nach dem Ende des 15-jährigen Bürgerkriegs 1990 standen syrische Soldaten im Land. Ihr Abzug konnte erst nach dem Attentat auf Premier Hariri im Jahr 2005 durchgesetzt werden. Der Iran ist durch seinen verlängerten Arm der Hisbollah, eine schiitische Partei und Miliz, noch immer tief im politischen Wirken in der Region verankert.

Wegen der Syrienkrise und des nun aufflammenden Konfliktpotenzials im Libanon läuten in Teheran ohnehin die Alarmglocken. Immerhin steht der Einfluss als Regionalmacht auf dem Spiel. Und das zu einer Zeit, in der der Westen an der Sanktionsschraube dreht und der schiitische Gottesstaat vor einem Wirtschaftskollaps steht.

Graben zwischen Saudis und Persern wird tiefer

Daher ist es nun für die iranische Führung umso wichtiger, den "Kampf" Sunniten gegen Schiiten für sich zu wenden. Vergessen ist die Euphorie, als mit Präsident Mahmoud Ahmadinejad 2007 zum ersten Mal seit der Islamischen Revolution im Jahr 1979 ein amtierender iranischer Präsident inmitten weiß gekleideter muslimischer Pilger aus aller Welt den heiligen Boden von Mekka geküsst und eine Annäherung von Iran und Saudi-Arabien proklamiert hatte.

Dass der sunnitische "Wächter der Heiligen islamischen Stätten", der saudische König Abdullah, den Präsidenten des einzigen von religiösen Schiiten geführten Landes zur Pilgerfahrt lud, war damals ein Versuch, den tiefen Graben zwischen den islamischen Religionsströmungen zu überwinden. Doch dieser Graben ist seit dem Irakkrieg bedrohlich tiefer geworden: Die von überwiegend pro-iranischen Schiiten geführte Bagdader Führung beschuldigt - ebenso wie Teheran - die Saudis schon seit langem, die blutige Rebellion der Sunniten im Irak tatkräftig zu unterstützen.

Umgekehrt haben sunnitische Herrscher am Persischen Golf, in Jordanien und Ägypten Angst vor dem neu auflebenden schiitischen Halbmond unter der Federführung Teherans. Hinzu kommt die Furcht vor einer iranischen Atombombe. Teheran wiederum will in der Syrien-Krise seinen wichtigsten Verbündeten in der Region nicht verlieren und unterstützt Damaskus offenbar mit Waffen, Geld und Personal.

Iran schickt seine Eliteeinheiten nach Syrien

Was das "Wall Street Journal" vor einigen Wochen berichtete, wurde der "Wiener Zeitung" von Experten in Damaskus bestätigt: Der Iran schickt regelmäßig militärische Führungskräfte der iranischen Eliteeinheit - den Revolutionsgarden - sowie tausende Soldaten nach Syrien.

Zudem trainiert die Führung in Teheran schon lange Mitglieder des syrischen Sicherheitsapparats in Cyber-Sicherheit und Spionagetätigkeiten. Die Entscheidung, Truppen zu entsenden, sei schließlich nach Anschlägen in Damaskus und Aleppo in diesem Sommer gefallen, insbesondere nach einer Explosion im Juli, bei der vier Mitglieder des inneren Führungszirkels von Präsident Bashar al-Assad getötet worden seien, heißt es in dem Bericht.

Auch die libanesische Hisbollah mit ihrem Führer Hassan Nasrallah wird vom Iran tatkräftig unterstützt. Teherans Politik basiert auf fünf strategischen Zielen: der Ausbau des schiitischen Einflusses vor allem in Bahrain, aber auch im restlichen schiitischen Halbmond, die Hilfestellung für die Palästinenser, die unbedingte Vermeidung des Sturzes des Assad-Regimes, die Festigung des Einflusses gegenüber Israel mittels Hisbollah und Hamas und letztlich der "Widerstand gegen die sunnitischen Machtspiele" - wie etwa im Libanon, der immer tiefer in diesen regionalen Konflikt zischen Schiiten und Sunniten hineingezogen wird.

Schiitischer Halbmond und Sunnitisches Dreieck
Im Nahen und Mittleren Osten werden die Länder, die einen hohen Anteil von Schiiten oder gar eine schiitische Mehrheit in der Bevölkerung aufweisen, als "schiitischer Halbmond" bezeichnet. Die Bezeichnung geht darauf zurück, dass die Länder Bahrain, Iran, Irak und Libanon einen Halbmond bilden, wenn man sie verbindet.
Der schiitische Halbmond wird unter der Federführung Teherans genutzt, um die Regionalmacht des Iran und den Einfluss der Schiiten als Gegenpol zu den vor allem von Saudi-Arabien gelenkten Geschicken der sunnitischen Mehrheit innerhalb der Muslime der Region zu stärken. Dafür streckt Teheran die Fühler in die genannten Länder, aber auch nach Bahrain, in den Libanon und nach Aserbaidschan aus.
In gewisser Weise wird auch der Jemen zum schiitischen Halbmond gezählt, auch wenn aufgrund schwankender Angaben unklar ist, ob das Land eine schiitische Mehrheit oder starke schiitische Minderheit hat.
Eine Sonderrolle nimmt wegen seiner Vielfalt der Libanon (siehe Grafik) ein. Da die von Iran unterstützte Hizbollah dort aber politisch sehr aktiv ist, dient er für die Umsetzung der Ziele Teherans und durch die Verflechtungen mit Syrien als eine Art Drehscheibe.
Syrien gehört mangels einer schiitischen Bevölkerungsmehrheit eigentlich nicht zum schiitischen Halbmond, wird aber von einer kleinen schiitischen Elite, die den Alawiten angehört, geführt. Das seit mehr als eineinhalb Jahren mit Protesten gegen
Präsident Bashar al-Assad konfrontierte Land unterhält enge Beziehungen zum Iran und zählt für die Perser durch seine geopolitische Bedeutung zum schiitischen Halbmond.
Nach den Ereignissen rund um den Arabischen Frühling und der Entmachtung der Herrscher in Ägypten, Tunesien, im Jemen und in Libyen, den misslungenen US-Operationen in Afghanistan und dem Irak und nach den jüngsten Spannungen in der Region wegen der anhaltenden Syrienkrise sprechen Experten neben dem schiitischen Halbmond auch von einem neuen sich anbahnendem Zweckbündnis: nämlich vom "sunnitischen Dreieck"" mit der Türkei, Saudi-Arabien und Ägypten. Trotz ihrer unterschiedlichen Interessen verfolgen die drei Länder ein gemeinsames Ziel: das Zurückdrängen des Einflusses des Iran beziehungsweise der USA in der Region.