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Stadtluft macht nicht frei

Von WZ-Korrespondent Wu Gang

Politik

Das umstrittene Meldewesen macht aus | Millionen Chinesen Bürger zweiter Klasse.


Peking. Zhan Quanxi, ein Grafik-Designer aus der Provinz Hubei, kann es nach wie vor nicht fassen: "Seit elf Jahren lebe ich hier in Shanghai, habe Steuern bezahlt und gearbeitet - und jetzt sagen sie meiner 15-jährigen Tochter, sie wäre eine Heuschrecke?" Der Streit mit den anderen Familien war im letzten Dezember aufgrund der "Gaokao" aufgeflammt, einer heiß umkämpften Zulassungsprüfung für die nationalen Hochschulen. Nach dem gegenwärtigen System müssen Schüler die "Gaokao" in jener Stadt ablegen, in der sie gemäß ihres "Hukous" gemeldet sind - und wörtlich übersetzt heißt "Hukou" "eingetragener ständiger Wohnsitz". Das wiederum bedeutet, dass Kinder von Migranten gezwungen sind, drei Jahre vor dieser Abschlussprüfung in ihre Heimatstadt zurückzukehren, um dort die restliche Schulzeit abzusitzen - selbst dann, wenn sie wie Zhans Tochter bereits seit dem Kindergarten die lokalen Schulen in ihrer Wahlheimat besucht haben. "Meine Tochter lebt in Shanghai, seitdem sie vier Jahre alt ist, sie kennt ihre vermeintliche Heimatstadt nicht einmal. Warum hat sie also nicht dieselben Rechte wie ihre Klassenkameraden aus Shanghai? Wir fühlen uns hilflos", sagt Zhan, der nach diesem Vorfall eine Aktivistengruppe gründete, der sich spontan über 500 Personen anschlossen.

Ein Beispiel, das zeigt, wie viel Sprengkraft in dem vermeintlich harmlosen Meldedokument steckt. Eingeführt wurde es 1958 in der Ära Mao, um die Bevölkerung durch eine erzwungene Immobilität besser kontrollieren zu können. Mit den von Deng Xiaoping eingeleiteten Reformen wurden diese Restriktionen gelockert, und obwohl der größte Teil der Bevölkerung nach wie vor an den ihr zugewiesenen Ort gebunden ist, gibt es heute geschätzte 260 Millionen chinesische "Wanderarbeiter". Diese können sich jedoch aufgrund ihres offiziell eingetragenen Heimatortes nicht in ihrem neuen Wohnort melden und haben deswegen weniger bis gar keinen Zugang zu Bildungseinrichtungen wie Schulen und Universitäten, Sozialleistungen und Krankenversicherung. Diese Regel hat auch zu den starken sozialen Unterschieden zwischen urbanen und ländlichen Gebieten beigetragen, denn zu den Leistungen, die einem Bürgers mit Stadt-Hukou zustehen, gehören auch die Altersvorsorge und der Anspruch auf sozialen Wohnungsbau. In den Städten ist dadurch eine Klasse von inoffiziellen Bürgern herangewachsen, die gegenüber der gemeldeten Bevölkerung erheblich benachteiligt ist.

Upgrade mit enormen Kosten

Schon länger hatte die chinesische Regierung angekündigt, das soziale Pulverfass entschärfen zu wollen, und der scheidende Premierminister Wen Jiabao bezeichnete die landesweite Reform des "Hukou" in seiner Abschiedsrede vor dem 12. Nationalen Volkskongress als "notwendig". Nun sollen offensichtlich Taten folgen: Wie ein wissenschaftlicher Berater der Nachrichtenagentur Reuters versicherte, plane die neue Regierung, das gegenwärtige System durch nationale Aufenthaltsgenehmigungen zu ersetzen, um damit die Urbanisierung zu beschleunigen und über den zusätzlichen Konsum das Wirtschaftswachstum anzukurbeln. Sozialleistungen und Berechtigungen sollen demnach "grundsätzlich gleichwertig" sein, doch genaue Zeitangaben konnte die anonym bleiben wollende Quelle nicht nennen. Zhang Ping, Vorstand der Nationalen Entwicklungs- und Reformkommission, wurde am Mittwoch konkreter und sagte, die Richtlinien für einen Urbanisierungsplan sollten noch in der ersten Jahreshälfte 2013 vorgelegt werden: "Die Urbanisierung ist das größte Potenzial, um die Nachfrage nach Konsumgütern und damit den Aufschwung voranzutreiben."

Inoffiziell ist davon die Rede, dass die Regierung allen gegenwärtigen Wanderarbeitern innerhalb von drei bis fünf Jahren die vollen Rechte und Privilegien eines Stadtbürgers zuerkennen will. Allerdings wird die Sache teuer: Ein Thinktank der chinesischen Regierung hat errechnet, dass ein "Upgrade" von Land- zu Stadtbewohner den Staat durchschnittlich rund 100.000 Yuan (rund 12.200 Euro) pro Person kosten dürfte. Bei 260 Millionen Menschen macht das eine gigantische Summe von 3,17 Billionen Euro.

Daher regt sich, obwohl das "Hukou"-System weitgehend als unfair angesehen wird, auch Widerstand gegen die geplanten Reformen. In Shanghai etwa hat sich auf die Aktionsgruppe von Herrn Zhan sofort eine Gegeninitiative formiert, die ihren Ärger auf dem chinesischen Twitter-Pendant Weibo Luft macht: "Durch eine Änderung der Regel wären die städtischen Sozial- und Erziehungssysteme völlig überlastet und dem Missbrauch wird Tür und Tor geöffnet. Einheimische von Peking, Shanghai und Guangdong, lasst uns im Kampf gegen diese Politik für unsere Kinder zusammenstehen!"