Zum Hauptinhalt springen

"Die Ideologie von Al-Kaida ist tot"

Von Veronika Eschbacher

Politik

Arabischer Frühling gab laut Karman Jugend Alternative zu Extremismus.


Tawakkol Karman muss sich kein Blatt mehr vor den Mund nehmen. Die 34-Jährige, die viel lacht und bei ihren ergreifenden Reden immer heftig gestikuliert, hat 2011 als erste arabische Frau und jüngster Preisträger in der Geschichte den Friedensnobelpreis erhalten. Der Westen nennt sie die "jemenitische Jeanne d’Arc", in ihrer Heimat wird sie als "Mutter der Revolution", die sie im Jänner 2011 mit auslöste, bezeichnet.

Die junge Frau mit dem interessierten, offenen Blick scheut sich auch nicht davor, Mitstreiter im Kampf um die Realisierung von Menschenrechten zu hinterfragen. So konstatierte sie bei der Menschenrechtskonferenz "Vienna +20" diese Woche in Wien, zu der sie das Außenministerium geladen hatte, erhebliche Mängel bei der Arbeit von Nichtregierungsorganisationen während der Proteste des Arabischen Frühlings. Oft hätten sie nur "dagestanden und zugesehen, wie Leute vor ihren Augen umgebracht wurden", so die Aktivistin unverblümt. Damit bringt sie die Themen in oft abstrakten politischen Diskussionen auf den Boden der Tatsachen.

Das Wort "ich" verwendet die Tochter eines Politikers kaum. Sie spricht fast ausschließlich von einem "wir" - damit meint sie alle, die im Kampf gegen Ungerechtigkeiten aufstehen. Die Mutter dreier Kinder ist unermüdlich im Einsatz, besucht syrische Flüchtlingscamps, hält Vorträge in Harvard oder tauscht sich mit internationalen Spitzenpolitikern aus. Freiheit und Würde sind in Gesprächen ihre Lieblingswörter.

Daneben ist sie im Jemen aber auch noch Mitglied der Konsens-Kommission, dem höchsten Gremium des sogenannten Nationalen Dialogs. Der seit 1978 regierende Präsident Ali Abdullah Salih war im Februar 2012 im Zuge der Revolution gestürzt worden, Vizepräsident Abdrabu Hadi wurde in einer Wahl ohne Gegenkandidaten zum Interimsstaatschef bestimmt. Im Nationalen Dialog sollen die rivalisierenden Parteien und Revolutionsgruppen nun die größten Probleme des Landes - etwa die separatistischen Bestrebungen des Südens oder den Konflikt mit den Huthi-Rebellen - lösen.

"Wiener Zeitung": Wie hat sich Ihr Leben seit dem Friedensnobelpreis verändert?Tawwakol Karman: Der Preis hat viel verändert für die Causa, die ich vorantreibe. Die Stimme derer, die sich opfern im Kampf um Menschenrechte, für Würde und Freiheit, hat nun mehr Stärke durch meine Stimme. Aber ich trage jetzt auch mehr Verantwortung, in sowie außerhalb meiner Heimat. Im Jemen bin ich weiterhin in viele zähe politische Prozesse involviert. Gleichzeitig habe ich auch außerhalb des Landes internationale Einladungen, viele warten auf mich. Ich versuche, diesen Balanceakt bestmöglich zu meistern.

Sie haben den Nobelpreis für Ihren Einsatz für Menschenrechte erhalten. Wie ist die Menschenrechtslage im Jemen heute?

Es gibt Fortschritte, nicht nur im Jemen, sondern in allen Ländern des Arabischen Frühlings. Aber sind wir damit zufrieden? Nein, natürlich nicht. Davon haben wir nicht geträumt. Wir wollen die Verwirklichung der vollen Menschenrechte, demokratische Rechte, Redefreiheit, Frauenrechte. Wir wollen nicht vergleichen zwischen vorher und jetzt, wir wollen den Vergleich zwischen dem, was wir erreicht haben und dem, wovon wir träumen.

Können Sie sich im Jemen ungehindert Ihre Meinung sagen?

Das ist nach wie vor problematisch. Heute ist es teilweise gefährlicher als zuvor. Früher hat man Aktivisten eingesperrt. Das macht die jetzige Regierung nicht mehr. Die noch immer aktiven Kräfte des alten Regimes aber greifen heute gleich auf Ermordungen zurück. Wir haben jedoch nur vor einem Angst: dass wir unsere Rolle nicht weiter spielen können. Diese Angst verleiht uns aber gleichzeitig auch mehr Mut.

Sie sagen, dass die größte Bedrohung für Aktivisten im Jemen vom ehemaligen Regime ausgeht. Was ist aber mit Al-Kaida?

Al-Kaida ist ein Spiel, das vom ehemaligen Regime benutzt wurde, um dem Westen vor dem Jemen Angst zu machen, von ihm Gelder zu erhalten und um die Opposition im Jemen zu attackieren. Sie haben einerseits Al-Kaida-Gruppen mit Waffen und Geld gefüttert, damit sie wachsen. Aber andererseits auch nur einfache Kriminelle und diese dann Al-Kaida genannt. Dieses Spiel spielen sie auch noch heute, um den Übergangsprozess zu sabotieren.

Die richtige Al-Kaida haben wir aber in ihrer Ideologie angegriffen. Ihr Grundgedanke ist, Interessen und Forderungen mit Gewalt durchzusetzen. Wir haben durch unsere erfolgreiche, friedvolle Revolution vor allem jugendliche Al-Kaida-Anhänger davon überzeugt, dass Gewalt nicht die einzige Möglichkeit ist, sich durchzusetzen. Es gibt einen anderen, effektiven Weg: Frieden. Dieser hat Diktatoren wie Gadaffi, Ben Ali, Mubarak gestürzt. Das haben nun alle gesehen. Die Ideologie von Al-Kaida in Arabien ist tot.

Wie geht der nationale Dialog im Jemen voran?

Bis jetzt läuft es in manchen Gebieten wirklich hervorragend, aber es gibt noch ein paar Hindernisse. Wir haben das Ali-Salih-Regime gestürzt, Armee und Sicherheitskräfte vereint. Die Revolution ist damit aber noch nicht zu Ende. Wir kämpfen mit Korruption, die findet sich überall, und mit der weiteren Existenz des Ex-Präsidenten innerhalb des Systems. Er kann aufgrund der Immunität, die ihm zugestanden wurde und seinen finanziellen Mitteln, die nach wie vor nicht eingefroren sind, den nationalen Dialog und einzelne involvierte Personen angreifen. Er ist nach wie vor auf Rache aus und unterstützt Kriminelle, die dann Stromleitungen kappen oder Ölpipelines sabotieren. Aber wir sind auch beharrlich.

Was treibt Sie an?

Das ist der Zerfall meines Landes. Wenn ich sehe, dass es zerstört wird - ökonomisch, sozial, politisch -, kann ich nicht zusehen. Es ist einfach, andere nur zu beschuldigen. Bereits seit ich ein Kind bin, trage ich den Satz in mir: "Sei ein Teil der Lösung, nicht des Problems."