Tunis/Wien. Die Fahnen in Tunesien wehen wieder auf Halbmast. Eine Waffe mit neun Millimeter Kaliber stürzte das Land im Februar ins Chaos, von dem es sich langsam erholt zu haben schien. Doch dieselbe Waffe reißt nun notdürftig geflickte Wunden in der Gesellschaft wieder auf, sorgt für Trauer und Bestürzung. Der am Donnerstag ermordete Oppositionspolitiker Mohamed Brahmi sei demnach mit jener Pistole getötet wurde, mit der bereits die tödlichen Schüsse auf den Oppositionellen Chokri Belaid abgegeben wurden. Ein Tatverdächtiger ist mittlerweile bereits gefunden: Tunesiens Innenminister Lotfi Ben Jeddou macht den radikalislamischen Salafisten Boubacar Hakim verantwortlich.
Laut dem Autopsieergebnis wurde Brahmi von mehr als einem Dutzend Kugeln getroffen. Seine Kinder berichteten, zwei Männer auf einem Motorrad hätten das Attentat verübt. Der 58-Jährige Brahmi gehörte in der verfassungsgebenden Versammlung dem linken, laizistischen Lager an und leitete die Partei "Bewegung des Volkes". Seine Familie machte die regierenden Islamisten der Ennahda-Partei für den Mord verantwortlich. Tausende Menschen gingen in Tunis und Brahmis Heimatstadt Sidi Bouzid aus Protest gegen die Islamisten spontan auf die Straße. Der Gewerkschaftsbund UGTT rief aus Protest gegen den Mord zu einem landesweiten Generalstreik auf, dem zehntausende Menschen gefolgt sind.
"Kein zweites Ägypten"
Doch auch die Islamisten demonstrierten am Freitag Stärke: Tausende Anhänger der Regierungspartei Ennahda gingen auf die Straßen der Hauptstadt Tunis, um gegen Forderungen nach Rücktritt der Regierung zu demonstrieren. "Kein Putsch gegen die Demokratie", skandierten die Demonstranten wohl in Anspielung auf Ägypten, wo das Militär den islamistischen Präsidenten Mohammed Mursi gestürzt hat. Nach dem ersten tödlichen Anschlag gegen Oppositionspolitiker im Februar gab es die größten Demonstrationen seit dem Sturz des Machthabers Zine al-Abidine Ben Ali 2011. Allerdings versuchen seitdem Salafisten, ihren Einfluss auszuweiten, und haben damit die säkulare Elite des Landes alarmiert, die demokratische Errungenschaften sowie Bürger- und Frauenrechte bedroht sehen.
Der als Tatverdächtigter geltende Boubacar Hakim wird bereits wegen des Schmuggels von Waffen aus Libyen gesucht. Hinweise auf eine Verwicklung politischer Parteien in die Mordfälle gebe es nicht, sagte der Tunesiens Innenminister. Die Behörden verdächtigen insgesamt 14 Salafisten, in die Ermordung von Brahmi verwickelt zu sein. Die meisten von ihnen sollen zudem Mitglieder der lokalen radikalislamischen Gruppierung Ansar al-Sharia sein. Der Salafisten-Führer Saifallah Benahssine steht in Verdacht, den Angriff auf die US-Botschaft im September angestiftet zu haben, bei dem vier Menschen starben.
Die Ermordung Brahmis löste international Bestürzung aus. Die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton rief die tunesischen Behörden auf, "alles zu tun, um diesen Mord völlig aufzuklären, um die Verantwortlichen ohne Verzögerungen vor Gericht zu stellen". Auch auf den Flugverkehr hatte das Attentat Konsequenzen: Europäische Fluggesellschaften mussten fast alle Flüge in das nordafrikanische Mittelmeerland streichen, auch die AUA.