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Ökonomie einer Flucht

Von Andrea Roedig

Politik

Seit Jahren lebt der Syrer Omar in Österreich. Er ist nun der Anker seiner Familie.


Wien. Er sieht aus wie ein feiner Kerl. Wie ein komplizierter Mensch vielleicht auch. Groß ist er, schlank, er trägt einen kurzgeschnittenen Bart und hat das volle, schwarze Haar zum halblangen Zopf zurückgebunden. Zum Treffen, das die Grüne Bildungswerkstatt arrangiert hat, bringt er seinen Hund mit, der reglos unterm Gasthaustisch liegt, während Omar seine Geschichte erzählt. Sein Englisch ist sehr gut.

Er spreche es besser als Arabisch, sagt er, im Arabischen mache er Fehler. Englisch, seine Lieblingssprache, sei die Sprache der Freiheit. "Ich bin nicht Syrer oder Palästinenser oder sonst etwas", sagt er auch, weil er Nationalität für kein besonders tragfähiges Konzept hält. Omar* ist 30 Jahre alt und lebt seit etwas mehr als vier Jahren in Österreich. Dass er in Damaskus geboren und aufgewachsen ist, als das älteste von drei Kindern einer Mittelschichtfamilie, bedeute nicht, dass er dort hingehöre. Seine Erzählungen über die Kindheit kommen zäh und zögerlich, wirken abstrakt, als seien sie nicht mehr von Belang. Er habe nie hineingepasst in die arabische Welt, sagt Omar. "Odd", "weird" und "black sheep" sind die Vokabeln, mit denen er sich selbst beschreibt.

Auf Wunsch seiner Eltern hatte Omar Jus studiert, das Studium kurz vor dem Abschlussexamen aber abgebrochen und eine Privatschule für Innenarchitektur besucht. Handwerklich geschickt verdiente er sein Geld zum Teil als Innenarchitekt, stellte Schmuck her, malte im Auftrag eines Kunsthandwerkgeschäfts in der Altstadt von Damaskus. Dort lernte er 2007 Marianne kennen, eine Österreicherin, die für einen längeren Auslandsaufenthalt in Syrien war. Er weiß noch genau, wie sie das Geschäft betrat, und zeichnet den Grundriss auf ein Stück Papier. Sie war der erste Mensch seit langem, der ihm etwas bedeutete. Die beiden trafen sich in Abständen mal in Dubai, dann wieder in Damaskus. Im Jahr 2009 heirateten sie, und am 30. 9. 2009, das Datum vergisst er nicht, zog Omar endgültig nach Österreich. Hier fühlte er sich sofort zu Hause, mehr zu Hause als je zuvor. Nichts rief ihn zurück. "Niemand in Syrien war wichtig für mich", sagt er und vermisst auch heute nichts, außer manchmal, wenn er wirklich Hunger hat, das arabische Schawarma.

Bis hierhin lief alles glatt und halbwegs unproblematisch. Doch dann brach der Bürgerkrieg in Syrien aus. Als die Unruhen im Mai 2012 Damaskus erreichten, verloren Omars Eltern ihre Arbeit. Omar telefonierte jetzt jeden Tag mit ihnen, suchte nach Lösungen.

Den Bruder retten

Plötzlich war er der Haltepunkt für den damals 53-jährigen Vater, die 49-jährige Mutter, für den Bruder und die Schwester, war verantwortlich für eine Familie, der er eigentlich hatte entkommen wollen. Eine Flucht über Dubai scheiterte, nach vielem Hin und Her nahm die Familie den Weg vieler Syrer: Sie floh nach Ägypten. Omar unterstützte seine Eltern finanziell, rund 800 Euro von dem, was er selbst verdiente, schickte er monatlich nach Kairo.

Zurück nach Damaskus führte kein Weg. Aber Kairo war ebenfalls eine Sackgasse. Im Juni 2013 erreichte Omar ein Anruf seines Bruders. Er sei bereits zwei Mal von der ägyptischen Polizei aufgehalten worden im Verdacht, an Demonstrationen teilgenommen zu haben. Nun fürchtete er eine Inhaftierung, "denn die Ägypter hassen die Syrer, weil sie in ihnen Unruhestifter sehen", meint Omar.

Sein Bruder wollte so schnell wie möglich in eines der Flüchtlingsboote, die von Alexandria aus nach Sizilien gehen, und sich dann bis nach Schweden durchschlagen, wo ein weiterer Onkel der Familie schon seit längerem lebte. Kostenpunkt: 3000 Euro. Omar besorgte das Geld. Dann begann die Zeit des Wartens, des Fürchtens, des Hoffens. Eine Woche lang war sein Bruder auf dem Meer unterwegs, unter den berüchtigten katastrophalen Bedingungen. Das Boot war komplett überbelegt, es gab nicht genug zu trinken und zu essen, eine einzige Toilette für alle, die Leute wurden seekrank und erbrachen sich über ihre Nachbarn. In dieser Woche hörte Omar nichts von seinem Bruder. Wie ist das, wenn man im Dunkeln bleibt? "Es war die längste Woche meines Lebens", sagt Omar.

Doch es ging gut aus, fürs Erste jedenfalls. Der Bruder kam sicher an. Die Polizei in Sizilien sei respektvoll gewesen, erzählte er später. Die Polizisten hätten den Flüchtlingen Shampoo besorgt und die Tore zum Camp vorsorglich offen gelassen. Denn der Trick ist der: Man kommt ins Aufnahmelager, muss von dort aber weglaufen, ohne offiziell registriert worden zu sein, einen Zug nach Norden nehmen, sich dann von einem Schleuser aufgreifen und weiter bringen lassen.

Omars Bruder gelang die Flucht aus dem Lager, er schaffte es mit dem Zug bis nach Mailand. Doch dann ging etwas schief. Der beauftragte Schleuser kam nicht, der Bruder saß fest. In seiner Verzweiflung fiel ihm nichts anderes ein, als einen Zug nach Linz zu nehmen. Plötzlich stand er, mit drei weiteren Flüchtlingen, in Omars Wohnung. So hatte Omar seinen Bruder noch nie gesehen. Er war dünn geworden, und "mehr als traurig". Die Demütigungen der Flucht hatten ihm stark zugesetzt. Was blieb Omar übrig? Er besorgte wieder einen Schleuser, der alle vier Flüchtlinge im Auto nach Brüssel fuhr, von dort ging es weiter nach Dänemark. Kostenpunkt: 500 Euro für die Unterbringung der Flüchtlinge, 700 für den Schleuser. Nach drei Wochen Flucht kam der Bruder an seinem Ziel an. Heute ist er in Schweden als asylberechtigt anerkannt.

Dann den Rest der Familie

Zu Ende war damit noch nichts, jetzt kam der Rest der Familie an die Reihe, ebenfalls mit Schweden als Ziel. Alles lag in Omars Verantwortung, und was ihn mürbe machte, war, dass die Eltern ihm alle Entscheidungen überließen. Vor dem Flüchtlingsboot hatten sie Angst, also suchte er andere Wege. Er suchte einen Schleuser für den Landweg über den Libanon und die Türkei. Das ging nur mit gefälschten Papieren. Omar bezahlte für die Pässe, doch im weiteren Verlauf wurde die Sache zu teuer, war unbezahlbar. Das Geld für die Pässe war weg. Immer noch zahlte Omar auch Teile des Lebensunterhalts der Eltern. "Ich konnte nicht ewig für sie aufkommen, also habe ich sie schließlich unter Druck gesetzt, doch das Flüchtlingsboot zu nehmen, trotz ihrer Angst", erzählt Omar. Er hatte auch Angst. Wenn ihnen etwas geschähe, wäre es seine Schuld.

"Soll ich schneller berichten? Es kürzer machen?", fragt Omar. Es gibt so viele Details. Immer passierte etwas. Eltern und Schwester kamen sicher in Lampedusa an, aber dort waren die Kontrollen verschärft worden und es gelang zunächst nicht, aus dem Lager wegzulaufen. Als das doch geschafft war, gab es Probleme mit der Passage nach Mailand. Dann mit dem Schlepper, der sie aus Mailand abholen sollte. Immer ging das Telefon. "Was jetzt?" Die Mutter aufgelöst, weinend. Immer war Omar in Kontakt mit Schmugglern in Italien, in Frankreich, in Belgien. Er blickt auf sein Handy - darüber lief alles, von August bis November war er konstant am Telefon. Welche Schleuser bieten sich an? Auf welches Konto soll das Geld gehen, ohne dass es auffällt? Abgewickelt wird alles über Western Union. Das Unternehmen verdient gut an dem Handel.

Omar ist erschöpft. Erst jetzt kommt die Anstrengung der letzten Monate wirklich hoch in ihm, eine Mischung aus Erleichterung und Depression. Auch Eltern und Schwester kamen in Schweden an. Was hat ihn am meisten verändert in der ganzen Flüchtlingsgeschichte? "Der Kontakt mit den Schmugglern", die Antwort klingt angewidert. "Es waren alles Landsleute. Du musst Menschen vertrauen, die davon leben, dich zu betrügen." Mit 9000 Euro ist Omar bei seinen Schwiegereltern verschuldet, mehr als 17.000 Euro insgesamt hat er an Schleuser, für Fahrkarten, Pässe, falsche Fährten bezahlt. Am Ende seiner Erzählung liegen etliche Zahnstocher zerkleinert vor ihm auf dem Gasthaustisch. "Ich kann die Hände einfach nicht stillhalten", sagt er.

*Namen wurden geändert.