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Zwischen Dialog und Diktatur

Von WZ-Korrespondent Tobias Käufer

Politik

Reportage: Aus einem Studentenprotest wurde eine Massenbewegung gegen das Regime.


Caracas. Diosdado Cabello hat sein gnadenloses Urteil gefällt. Immer wieder hält der sozialistische Präsident des venezolanischen Parlaments die Pappschilder in die Kamera, als wolle er die Zuschauer seiner eigenen TV-Show beschwören, ihm doch endlich Glauben zu schenken. Auf den Pappschildern sind Grafiken angebracht, die beweisen sollen, dass der vor ein paar Tagen unter bisher ungeklärten Umständen ums Leben gekommene System-ingenieur José Alejandro Márquez (45) in Wirklichkeit kein Demonstrant, sondern ein gefährlicher Auftragskiller war. Márquez, so berichtet Cabello den Zuschauern im Staatsfernsehen, soll den Plan gehabt haben, Präsident Nicolas Maduro zu töten. Schließlich sei er von den eigenen Leuten umgebracht worden. Als Beweise präsentiert er Twitter-Botschaften, die aber aus Facebook stammen.

Der Politiker nimmt es eben nicht allzu genau, auch nicht, als er Abkürzungen nicht deuten kann, die in den angeblichen Todesbotschaften stehen. Dann zeigt er Fotos, die Márquez als schwer bewaffnetes Mitglied einer paramilitärischen Bande entlarven sollen. Die Botschaft des Staatsfernsehens ist klar: Die Regierung ist unschuldig, der Tote ein Feind. Cabellos TV-Show gleicht einer medialen Hinrichtung des Opfers. Es ist als ob Márquez ein zweites Mal stirbt. Die Familie des Toten ist fassungslos.

Im Nachrichtenkanal CNN kommen die Angehörigen von Márquez zu Wort. Sie sprechen davon, dass seine Leiche starke Folterspuren am Schädel aufwies, und widersprechen der Darstellung der Regierung entschieden. Dunkle Sonnenbrillen verdecken ihre Augen. Es ist nicht nur der Tod von Márquez, es ist die Hilfslosigkeit gegen diese öffentliche Vorverurteilung. Kein Anwalt, kein Richter, kein Polizist ist da, der Cabello stoppen würde. CNN hat versucht, die angeblichen Beweise zu überprüfen, und ist zu überraschenden Ergebnissen gekommen. Márquez gehörte keiner paramilitärischen Bande an, sondern spielte in seiner Freizeit mit Freunden Paintball. Dabei schießen die Mitspieler mit Farbbeuteln aus Spielzeugwaffen aufeinander. Aus diesem Spiel stammen auch die Fotos, die Cabello präsentiert. Ein Video, das zeigen soll, wie Márquez von Polizisten gejagt wird, stützt die Aussage der Familie.

24.500 Morde binneneines Jahres in Venezuela

Der Fall Márquez zeigt, wie die führenden Köpfe in Venezuelas Regierung den Rechtsstaat außer Kraft gesetzt haben. Vor gut zwei Wochen begannen die ersten Demonstrationen im Land. Studenten gingen auf die Straße, weil auf dem Campus einer Universität im Bundesstaat Tachira eine Frau das Opfer eines Vergewaltigungsversuches wurde. Es war das eine Verbrechen zu viel, das das Pulverfass zum Explodieren brachte. Mehr als 24.500 Menschen starben laut inoffiziellen Angaben allein im vergangenen Jahr im gefährlichsten Land des Kontinentes eines gewaltsamen Todes.

"Was wir wollen ist, dass in unserem Land endlich wieder Demokratie, Rechtsstaat und Gerechtigkeit zurückkehren", sagt Oppositionsführerin Maria Corina Machado im Gespräch mit der "Wiener Zeitung". Machado ist neben dem vor ein paar Tagen verhafteten Oppositionspolitiker Leopoldo Lopez und Gouverneur Henrique Capriles eine der drei führenden Köpfe der Opposition. Nun führt sie, unterstützt von vielen tausend Menschen in Caracas, einen Protestmarsch für die Freilassung des 42 Jahre alten Politikwissenschafters Lopez an. Die Regierung wirft ihm vor, die Massen zur Gewalt angestachelt zu haben.

Menschenrechtsorganisationen sind entsetzt, Künstler, Sportler und Musiker fordern seine Freilassung. Was als Studentenprotest begann, ist mittlerweile eine breite Massenbewegung geworden. Bereits 18 Menschen starben, hunderte wurden verletzt, ebenso viele verhaftet. Entsetzte Eltern der Studenten wenden sich an die Kirche und berichten über Folter an ihren Kindern. Tamara Suju, Rechtsanwältin der Nichtregierungsorganisation Foro Penal Venezolano, die sich für politische Gefangene einsetzt, bestätigt gegenüber der "Wiener Zeitung" Berichte über brutale Polizeigewalt und Folter gegenüber den Demonstranten.

Präsident Maduro bezeichnet Lopez und seine Oppositionspartei Voluntad Popular als rechtsextreme Nazi-Faschisten, die einen Putschversuch planen würden. Ein Lokalaugenschein in der Polizeizentrale von Voluntad Popular lässt anderes vermuten. Hier arbeiten vor allem junge, engagierte Studenten. Die Stimmung ist wie bei einer Jugendorganisation der deutschen Piratenpartei oder der Grünen. Aus den Lautsprechern klingt alternativer Rock. Es wird ausgelassen diskutiert und debattiert. "Die Regierung kriminalisiert die Opposition, weil sie von den eigenen Problemen ablenken will", sagt David Smolansky. Der junge Bürgermeister von Hatillo definiert die Partei als sozialdemokratisch.

Es sind vor allem die jungen Venezolaner, die sich gegen die Regierung Maduros stellen. Seit Maduro die Opposition öffentlich kriminalisiert und stigmatisiert, solidarisieren sich auch die Eltern und Großeltern mit den Schülern und Studenten. Maduro hat bisher ihre Kritik an der katastrophalen Versorgungslage, der staatlichen Zensur, der Kriminalität und der hohen Inflation ignoriert.

Friedenskonferenz oder Show-Veranstaltung?

Ein Ausweg aus der Krise scheint nicht in Sicht. Beide Lager stehen einander unversöhnlich gegenüber. Präsident Maduro hat nun eine nationale Friedenskonferenz ins Leben gerufen, doch bisher weigert sich die Oppositionsspitze an dieser "Show-Veranstaltung" wie sie sagt teilzunehmen. "An dem Tag, an dem die Friedenskonferenz begann, hat die Regierung zeitgleich wieder Dutzende Menschen verhaftet, was soll das für ein Friede sein", sagt David Smolansky. Kurz vor dem ersten Jahrestag des Todes von Hugo Chavez steht das tief gespaltene Land vor einer ungewissen Zukunft und an der Schwelle zu einer Diktatur. An einer Häuserwand in Caracas prangt eines der unzähligen Graffitis mit dem Konterfei von Chavez: "Ohne patriotische Jugend gibt es keine Revolution" steht darauf zu lesen. Es scheint, als habe die Revolution die Jugend verloren.