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Leben mit dem übermächtigen Nachbarn

Von Klaus Huhold aus Taipeh

Politik

Taiwans Regierung will ein Handelsabkommen mit China unterschreiben. | Doch das löst bei vielen Taiwanesen Ängste aus: Sie fürchten um ihre Freiheit, wenn die Volksrepublik an Einfluss gewinnt.


Taipeh. Yang Yang und Long Hui, Sonnenschein und Drachenzeichen. Es sind zwei harmlose, unverfängliche Namen, die die beiden Pandabären im Wiener Tiergarten Schönbrunn tragen. Immer wieder verschenkt oder verleiht China Pandas: Das gab es schon zur Kaiserzeit. und die Kommunistische Partei (KP) hielt an dieser Praxis fest. Das erste von der KP verschenkte Pandapaar erhielt der damalige US-Präsident Richard Nixon 1972, es kam in den Washingtoner Zoo. Das Präsent dient oft als Geste des guten Willens oder als Zeichen der Annäherung. Peking charmiert mit der sogenannten Panda-Diplomatie.

Präsident Ma sucht Annäherung an China

Yuan Yuan und Tuan Tuan heißen zwei andere Pandabären, und das sind gar nicht unverfängliche Namen. Yuantuan bedeutet zusammengesetzt so viel wie Wiedervereinigung, und bestimmt waren die beiden Tiere für Taiwan. China betrachtet die Insel mit ihren rund 23 Millionen Einwohnern, die de facto unabhängig ist und seit Jahrzehnten eine eigene Regierung besitzt, als abtrünnige Provinz. Taiwans Ex-Präsident Chen Shui Ban von der Demokratischen Fortschrittspartei, der die Distanz zu China suchte und auf Taiwans Eigenständigkeit pochte, weigerte sich auch, die Pandas anzunehmen. Sein Nachfolger Ma Ying-jeou aber nahm die Bären 2008 entgegen.

Ma ist noch immer Taiwans Präsident, und er sucht weiterhin die Annäherung an China. Das wird in Peking mit Wohlwollen aufgenommen und geht weit über die Panda-Symbolpolitik hinaus. Es gibt wöchentlich hunderte Flüge zwischen Festlandchina und Taiwan, fast drei Millionen chinesische Touristen kommen jährlich auf die Insel, erstmals seit 1949 trafen sich beide Seiten auf Ministerebene - all das wäre vor ein paar Jahren noch unvorstellbar gewesen.

Und vor allem kooperieren Taiwan und China nun wirtschaftlich viel enger. So wurde 2010 ein Rahmenabkommen über wirtschaftliche Zusammenarbeit (Ecfa) unterzeichnet. Zölle wurden schon abgebaut. Aber nun debattieren die Taiwanesen heftig darüber, ob Ma einen Schritt zu weit gegangen ist. Er plant nämlich nun ein Dienstleistungsabkommen mit China, das den Markt auf beiden Seiten weiter öffnen würde. Die Gegner dieses Vertrages sehen nicht nur taiwanesische Kleinunternehmen durch die chinesische Billigkonkurrenz gefährdet, sondern laut ihnen steht viel, viel mehr auf dem Spiel: die taiwanesische Kultur und Lebensart, die politische Freiheit. In Taiwan macht sich Angst breit, dass der chinesische Riese mit seinen 1,3 Milliarden Einwohnern die Insel schluckt.

Taiwan ist eine von eingewanderten Chinesen aufgebaute Gesellschaft, die im Laufe der Jahrhunderte die 180 Kilometer über die Formosastraße im Ostchinesischen Meer überquert haben. Doch hat sich Taiwan ganz anders entwickelt als Festlandchina. Während in Peking die Kommunistische Partei (KP) alleine herrscht, ist Taiwan eine lebendige Demokratie.

Furcht vor Chinas immenser Wirtschaftskraft

Dies zeigt sich etwa an einem schwülen Frühlingsabend vor dem Parlament in der Hauptstadt Taipeh. Ein paar Demonstranten sitzen in einem Sesselkreis auf dem Gehsteig, und jeder, der will, darf das Mikrofon ergreifen und vor dem Auditorium sprechen. Unterbrochen werden die Reden von an der Gitarre gespielten Songs. Daneben befinden sich eine Garküche, die Suppen serviert, und ein Tisch, an dem politische Bücher und T-Shirts verkauft werden. Es ist eine Mischung aus Protest, Seminar und Liederabend, veranstaltet von einer kleinen NGO. Es geht etwa gegen die Atomkraft und um die Freilassung des wegen Korruption verurteilten Ex-Präsidenten Chen. "Und es geht um das Recht, überall seine Meinung frei zu äußern", sagt ein junger Mann, der sich als Jaron Lee vorstellt und am Rande der Kundgebung steht.

Lee sieht diese Freiheit gefährdet - und zwar durch China. Noch immer hat die Volksrepublik mehr als tausend Raketen auf Taiwan gerichtet, allerdings steht hinter Taiwan die Schutzmacht USA. Lee glaubt aber ohnehin nicht, dass China Taiwan militärisch einnehmen möchte. Stattdessen wolle die Volksrepublik Taiwan durch die Hintertür erobern, nämlich durch seine schiere Wirtschaftskraft. Wenn chinesische Geschäftsleute immer mehr taiwanesische Unternehmen übernehmen, "dann wird unsere Kultur verschwinden". Dann gäbe es keine Medienfreiheit mehr, "dann können wir nicht mehr unsere Musik hören oder frei Kunst ausüben", sagt Lee. Das von der Regierung geplante Dienstleistungsabkommen sei Chinas Sprungbrett dafür.

Regierung lenkt aufgrundder Proteste ein

Auch der Rechtsprofessor Huang Kuo Chang äußert bei einem Gespräch in einem Kaffeehaus die Überzeugung, "dass das Abkommen unsere nationale Sicherheit gefährdet". China wolle Taiwan noch immer auf die eine oder andere Weise einnehmen. "Doch viele Taiwanesen - und ich bin sicher, ich spreche hier von einer großen Gruppe - sind bereit, mit voller Hingabe für unsere Lebensart einzutreten", sagt Huang. Koste es, was es wolle? "Koste es, was es wolle."

Huang ist ein Mann mit festen Überzeugungen und mit dem festen Willen, für diese zu kämpfen. Seit Jahren ist er politisch engagiert. Der Gelehrte von der Nationalen Akademie der Wissenschaften ist auch einer der Organisatoren der sogenannten Sonnenblumenbewegung. Diese sehr stark von Studenten getragene Vereinigung hat Taiwan in der vergangenen Wochen mit ihren Protestaktionen aufgewühlt. Dabei hatten Mitglieder der Bewegung drei Wochen lang das Parlament besetzt. Unmittelbarer Anstoß dafür sei gewesen, auf welche Art und Weise die Regierung das Abkommen mit China durchboxen wollte, berichtet Huang.

Die Verhandlungen mit China gingen klammheimlich über die Bühne. Die regierende Kuomintang-Partei versprach dann aber, dass die Vereinbarung Punkt für Punkt im Parlament durchbesprochen werde. Die oppositionelle DPP betrieb dabei jedoch wochenlang eine reine Obstruktions- und Boykottpolitik. Schließlich erklärte ein Kuomintang-Abgeordneter die Beratungen für beendet und den Vertrag kurzerhand für ratifiziert. "Das Abkommen hat massive Auswirkungen auf alle Taiwanesen, und es gab keine grundlegende Debatte darüber", sagt Huang. "Das hat den Geist der Demokratie verletzt." Deshalb fasste die Sonnenblumenbewegung den Entschluss, ins Parlament einzudringen.

Die Aktion wurde zum Erfolg für die Studenten, die sich auch ganz klar von der oppositionellen DPP abgrenzen und sich von keiner politischen Partei vereinnahmen lassen wollen. Der Parlamentssprecher Wang Jin-Byng von der regierenden Kuomintang versprach, dass ein Gesetz verabschiedet werde, mit dem zukünftig die Umsetzung aller Verträge mit China überwacht wird. Danach soll das Dienstleistungsabkommen noch einmal einer Revision unterzogen werden.

"Ohne Frieden mit Chinahaben wir gar nichts"

An der Vereinbarung selbst will die Regierung aber nicht rütteln. Sie argumentiert, dass es Taiwan mehr Vorteile als Risiken bringt. Taiwan müsse sich in einer globalisierten Welt stärker regional integrieren, und der Vertrag mit China diene diesem Zweck. Zudem würde er die Wirtschaft vorantreiben und mehr Arbeitsplätze schaffen. Der Zugang für chinesische Unternehmen zum taiwanesischen Markt bleibt begrenzt, und negative Auswirkungen auf die lokale Wirtschaft will die Regierung mit verschiedenen Maßnahmen abfedern.

Dahintersteckt aber auch das politische Kalkül, dass nur die enge Anbindung an China Spannungen mit der Volksrepublik vermeidet. "Nur wenn wir den Frieden mit China bewahren, können wir den nächsten Schritt gehen. Und nur mit engen wirtschaftlichen Beziehungen zu China können wir unsere Wettbewerbsfähigkeit bewahren. Aber ohne Frieden und ohne ökonomische Wettbewerbsfähigkeit haben wir gar nichts in den Händen", erklärt ein Regierungsbeamter die Strategie von Staatschef Ma.

Generell erhält Ma, ganz unabhängig von dem Abkommen, viel internationale Unterstützung für seinen Annäherungskurs an China. Sowohl die USA als auch die EU seien erleichtert, dass sich nach dem Konfrontationskurs von Mas Vorgänger Chen die Lage zwischen den beiden Seiten wieder beruhigt habe, berichten Diplomaten.

Und auch große Teile der taiwanesischen Industrie wollen die Nähe zu China. Schon jetzt investieren und produzieren taiwanesische Unternehmen massiv am Festland, ein Beispiel dafür ist der Konzern Foxconn, der etwa in China iPhones für Apple fertigt. Insgesamt sollen taiwanesische Konzerne etwa genau so viele Arbeiter in China beschäftigen, wie Taiwan Einwohner hat, nämlich um die 23 Millionen. Und viele taiwanesische Unternehmen erhoffen sich von dem Abkommen weitere Vorteile.

Für die Sonnenblumenbewegung aber ist der politische Preis für die wirtschaftliche Annäherung zu hoch. Ihr Ringen mit der Regierung geht nun in die nächste Runde. "Wir werden in jede Stadt, in jede Region, in jede Ecke von Taiwan gehen, um den Leuten zu erklären, warum wir zu so drastischen Maßnahmen greifen mussten", sagt Huang. Die unmittelbaren Reaktionen auf die Proteste seien zwiespältig gewesen, berichtet der Student Chen Rui-Kuang, der 20 Tage lang bei der Parlamentsbesetzung dabei war. Einerseits hätte die Bewegung viel Unterstützung erfahren, Sachspenden und aufmunternde Briefe erhalten. Andererseits hätten ihnen Leute vorgeworfen, dass sie unverantwortlich handeln würden und zurück an die Universität sollen.

"Wir wissen nicht, was die schweigende Mehrheit denkt"

Jedenfalls waren die Proteste, darunter auch eine Demonstration mit mehreren hunderttausend Teilnehmern, sehr friedlich und diszipliniert. Die Sonnenblumenbewegung hat alles unternommen, um Aktionen zu vermeiden, die auch nur den Anschein von Chaos und Gewalt erwecken könnten und die Öffentlichkeit gegen sie aufbringen könnten. Denn Taiwan ist auch ein Land, in dem konfuzianistische Werte wie Respekt und Ordnung viel zählen.

Die Vertreter der Sonnenblumenbewegung wollen derzeit keine Partei gründen, aber den Diskurs in ihrem Land mitbestimmen. Sie haben ihren festen Willen bewiesen, für demokratische Werte in ihrem Heimatland einzutreten. Und sie haben erneut eine Debatte über die Frage entfacht, die wie keine andere über der taiwanesischen Politik und Gesellschaft schwebt: Wie soll Taiwan, das unter der ständigen Bedrohung der übermächtigen Volksrepublik steht, mit China umgehen? Will die Mehrheit der Bevölkerung Mas pragmatischen Kurs der Annäherung weitergehen? Oder überwiegt mittlerweile das Unbehagen darüber, dass China immer näher an die Insel heranrückt? Wollen die Taiwanesen sich ihre Souveränität wieder dadurch wahren, indem sie sich China vom Leibe halten, auch wenn das in Peking Drohgebärden auslöst? Das war der Kurs, den Mas Vorgänger Chen gegangen war.

"Wir wissen nicht, was die schweigende Mehrheit über die Proteste denkt", sagt der Leiter des Internationalen Informationsservice der Regierung, Manfred Peng. "Wir wissen aber, was sie will: Stabilität, Ordnung, ökonomisches Wachstum und Frieden mit China. Die Leute werden ihr Wort bei der nächsten Wahl 2016 sprechen."

Taiwans Prekärer Status

Die Insel Taiwan war immer wieder der Zufluchtsort für Chinesen, die sich in ihrer Heimat bedrängt fühlten - wirtschaftlich oder politisch. Über die Jahrhunderte gab es mehrere Einwanderungswellen auf die Insel, auf der schon indigene Völker lebten, die heute zwei Prozent der Bevölkerung ausmachen.

Amtssprache ist Mandarin, das Hochchinesisch. Die Muttersprache von mehr als der Hälfte der Bevölkerung ist aber Taiwanesisch, was von manchen als eigenständige Sprache und von anderen als Dialekt angesehen wird. Eine Minderheit spricht Hakka, einen chinesischen Dialekt. Hinzu kommen noch mehrere Sprachen der Ureinwohner.

Die letzte Immigrationswelle aus China gab es im Jahr 1949, als die nationalistische Kuomintang den Bürgerkrieg gegen Mao Zedongs Kommunisten verlor. Die Kuomintang zog sich mit Soldaten und zwei Millionen Zivilisten nach Taiwan zurück. Ihr Anführer Chiang Kai-Shek errichtete eine Diktatur.

Beide Seiten aber, sowohl Taiwan unter dem Namen Republik China als auch die Volksrepublik China unter Mao, erhoben allerdings den Anspruch, alleiniger Vertreter von einem einzigen China zu sein. Lange repräsentierte Taiwan China in internationalen Organisationen, etwa in der UNO, wo Taiwan erst 1971 von der Volksrepublik als Chinas Vertretung abgelöst wurde. Mittlerweile erkennen aber bis auf ein paar Kleinststaaten auch fast alle Länder die Volksrepublik und nicht Taiwan an.

Taiwan verwandelte sich in den 1990er Jahren in eine Demokratie; die ersten Wahlen gewann aber erst wieder die Kuomintang. Die zweite große Partei, die Demokratische Fortschrittspartei (DPP), stellte jedoch von 2000 bis 2008 mit Chen Shui-Ban den Präsidenten. Die China-Politik ist die entscheidende Trennlinie zwischen den beiden Parteien. Die DPP pocht vielmehr auf die Eigenständigkeit Taiwans, einzelne Mitglieder streben gar eine Unabhängigkeit als eigenständiger, von China getrennter Staat an, was Peking keinesfalls akzeptieren will.

Derzeit regiert aber wieder die Kuomintang, die vielmehr um einen Ausgleich mit Festlandchina bemüht ist. Richtlinie der China-Politik von Präsident Ma Ying-Jeou sind die "drei Neins": Nein zu einer offiziellen Unabhängigkeit als eigenständiger von China getrennter Staat, Nein zu einer Vereinigung mit der Volksrepublik China und Nein zu einer militärischen Lösung. Es ist mehr oder weniger der Versuch, den derzeitigen Status quo der Koexistenz beizubehalten.

Die Volksrepublik China hingegen sieht Taiwan als abtrünnige Provinz an, pocht auf die Vereinigung mit der Insel und behält sich dafür auch die Option auf einen Militärschlag offen. Allerdings steht Taiwan unter dem Schutz der USA.