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Wenn die Sicherung durchbrennt

Von WZ-Korrespondent Wu Gang

Politik

Mindestens 500.000 Menschen werden in Hongkong zu Protesten für mehr Demokratie in China erwartet.


Peking. Der 1. Juli gilt in der Volksrepublik China als ein historisches Datum. An diesem Tag wurde im Jahr 1921 die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) gegründet. Es war ein kleines, konspiratives Treffen, das in einem unscheinbaren Backsteingebäude in Schanghai über die Bühne ging. Gerade einmal 57 Mitglieder hatte die Partei damals, 13 von ihnen nahmen an der Gründungszeremonie teil. Den ideologischen Kurs legten zwei russische Agenten fest, erster Generalsekretär wurde nicht der spätere Steuermann Mao Zedong, sondern der Dekan der Pekinger Universität Chen Duxiu. Während dieser 1942 zurückgezogen und desillusioniert in der Provinz Sichuan starb, ist die Kommunistische Partei Chinas heute mit rund 82 Millionen Mitgliedern die größte politische Partei der Welt. Das wird üblicherweise gefeiert, gerne mit dem Bezug auf patriotische Traditionen und dem Beschwören der chinesischen Einheit. Doch eben jene Einheit wird nun ausgerechnet am geschichtsträchtigen Jubeltag infrage gestellt.

Der 1. Juli gilt auch in der Sonderverwaltungszone Hongkong als historisch. An diesem Tag wurde 1997 die frühere britische Kronkolonie an die Volksrepublik zurückgegeben. Jährlich marschieren aus diesem Anlass die pro-demokratischen Kräfte, um Peking an die Wahrung der zugesicherten Rechte und Freiheiten zu erinnern. Doch in diesem Jahr erwarten die Organisatoren nicht nur einen Marsch, sondern mit mindestens 500.000 Teilnehmern die größte Demonstration der jüngeren Stadtgeschichte. Das Ausmaß der Kundgebung resultiert aus der Frustration der Hongkonger über die Pläne der Zentralregierung zur Wahl des künftigen Verwaltungschefs. Und sie sind enttäuscht über deren Umgang mit einem inoffiziellen Referendum für mehr Demokratie, an dem innerhalb von zehn Tagen 787.767 Stimmen abgegeben wurden. Das entspricht einem Fünftel der Wahlberechtigten in der Sieben-Millionen-Metropole.

Occupy Central

Die inoffizielle Abstimmung war eine Aktion der "Occupy-Central with Love and Peace"-Bewegung. Die Gruppierung droht damit, Hongkongs Innenstadt mit Zehntausenden Menschen lahmzulegen, sollte die Regierung auf deren Forderungen nicht eingehen. Gründer von "Occupy Central" ist der Hongkonger Jura-Professor Benny Tai Yiu-ting, der dem Ergebnis trotz gewisser Unregelmäßigkeiten beim Wahlmodus - zur Registrierung waren lediglich ein Personalausweis und eine Handynummer erforderlich - eine geschichtsträchtige Bedeutung beimisst: "Die Unterstützung ist größer, als wir erwartet haben. Dieser Tag ist ein Meilenstein für die konstitutionelle Entwicklung dieser Stadt, niemals zuvor haben so viele Menschen öffentlich ihre Meinung ausgedrückt." Hintergrund der Abstimmung ist ein Versprechen Pekings, wonach die Hongkonger ab 2017 ihren Verwaltungschef frei wählen dürfen. Doch das Festland will die zur Wahl stehenden Kandidaten vorher von einem regierungstreuen Gremium aussuchen lassen, wodurch Vertreter des Demokraten-Lagers kaum eine Chance hätten. Peking verteidigt das Vorhaben damit, dass andere Verfahren für eine freie Wahl nicht mit dem Grundgesetz der chinesischen Sonderverwaltungszone übereinstimmen würden.

Mittlerweile hat mit Carrie Lam Cheng Yuet-ngor, der Staatssekretärin für Verwaltung, erstmals eine Spitzenbeamtin der Stadt auf das Ergebnis reagiert. Sie sagte, die Regierung würde die Meinungen "zur Kenntnis nehmen", betonte jedoch, dass die Wahlreform mit dem Grundgesetz übereinstimmen müsse und sich diese bis ins kommende Jahr verzögern könnte. "Occupy Central"-Gründer Benny Tai reicht das nicht. Er spürt, dass seine Bewegung Zulauf bekommt, und ruft zum zivilen Ungehorsam auf - trotz der möglichen Konsequenzen. Es war vor allem das von Peking Anfang Juni veröffentlichte Weißbuch zur Hongkong-Frage, das die Öffentlichkeit auf einer breiteren Basis mobilisierte. In dem Papier stellte die Zentralregierung klar, dass Hongkongs hoher Grad an Autonomie lediglich vom Festland gewährt sei. Viele verstehen das als Drohung, dass der Stadt ihre Rechte wie freie Meinungsäußerung oder Pressefreiheit genommen werden könnten.

Peking warnt vor Radikalen

Letzten Freitag demonstrierten hunderte von Juristen gegen das Weißbuch, das die Richter in Hongkong lediglich als "Verwaltungsbeamte" bezeichnete, von denen in erster Linie Vaterlandsliebe gefordert sei. Die Anwälte sehen die Unabhängigkeit der Justiz in Hongkong in Gefahr. Mittlerweile unterstützen laut einer Umfrage fast 70 Prozent der jungen Hongkonger "Occupy Central", wobei sich unter ihnen auch radikale Gruppen gebildet haben.

Indirekte Rückmeldungen aus Peking lassen erahnen, dass Peking auf die Proteste reagieren wird. Die rhetorische Speerspitze bildete einmal mehr das regierungsnahe Sprachrohr "Global Times", das die Hongkonger davor warnte, "von einer radikalen Opposition gekidnappt zu werden". Bei den Oppositionsgruppen würde es sich um "Extremisten" handeln, die gewillt seien, den Wohlstand der Stadt für ihre eigenen Interessen zu opfern: "Hongkong ist kein Ort der politischen Konfrontation, doch einige Leute dort sind offensichtlich wahnsinnig geworden. Sie geben sich zivilisiert und rational, doch ihre politische Paranoia könnte eine Sicherung durchbrennen lassen." Die fundamentale politische Anforderung an die örtlichen Verantwortungsträger sei daher, "dass sie sowohl das Land als auch Hongkong lieben".

Doch nicht nur das für seine Brachialrhetorik bekannte Parteiblatt drohte mit möglichen Konsequenzen angesichts der zu erwartenden Demonstrationen. Mit PricewaterhouseCoopers, KPMG, Deloitte und Ernst & Young warnten gleich vier große Unternehmensberatungsfirmen in einer Zeitungsanzeige, die geplanten Proteste von Occupy Central könnten "Instabilität und Chaos" bringen und Hongkongs Status als internationales Finanzzentrum gefährden. Doch speziell bei den Jugendlichen, die zu den Verlierern der deregulierten Märkte und dem verstärkten Zustrom an Festland-Chinesen auf die Insel zählen, ist die Stimmung vor dem 1. Juli aufgeheizt. Die Polizei hat vorgesorgt und eine Kaserne räumen lassen, um bei Massenverhaftungen bis zu 3000 Personen anhalten zu können. Die Feierlaune zum Jahrestag der Parteigründung will sich Peking jedenfalls nicht verderben lassen.