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Denkmal mit Kratzern

Von WZ-Korrespondent Frank Nordhausen

Politik

Der Vorstoß der IS-Terroristen hat das Image von Massud Barzani, Langzeit-Präsident der Autonomen Region Kurdistan, lädiert.


Erbil. Der Weg von der nordirakischen Metropole Erbil zu Massud Barzanis Hauptquartier führt in karges Bergland, vorbei an zahlreichen Kontrollpunkten, bis man schließlich den riesigen Sandsteinpalast des Präsidenten erreicht. Es heißt, einen sichereren Ort als diesen gebe es nicht in der gesamten Autonomen Region Kurdistan, dem halbstaatlichen Gebilde im Norden des krisengeschüttelten Irak. Es sind viele Politiker aus dem Westen, die Barzani in diesen Tagen ihre Aufwartung machen: der amerikanische Außenminister John Kerry oder der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier. Denn der irakische Kurdenführer Massud Barzani ist eine Schlüsselfigur im neuen Kampf um den Nahen Osten, den die Bedrohung durch die Terrormilizen des Islamischen Staats (IS) entfesselt hat. Auf dem Spiel stehen die Einheit des Irak und die Erhaltung eines jahrhundertealten Völker- und Religionsgemisches von Arabern, Kurden, Turkmenen, Christen, Jesiden, das nun unter dem Ansturm der Dschihadisten zersplittert.

Der 68-jährige Barzani empfängt seine Gäste in der traditionellen kurdischen Kleidung: beigefarbene Pluderhose mit breiter Schärpe und ein rotgemusterter Turban auf dem Kopf. Sein Händedruck ist weich, seine Stimme sanft und seine Botschaft immer dieselbe: "Wir brauchen humanitäre Hilfe, um das Flüchtlingsproblem zu bewältigen. Vor allem aber brauchen wir Waffen, um uns gegen den Islamischen Staat zu wehren."

Die Autonome Region Kurdistan ist die letzte Bastion westlicher Werte von Demokratie und Pluralismus vor der Grenze zum Nato-Partner Türkei. Massud Barzani, seine Kurdische Demokratische Partei (KDP) und seine Partner von der Patriotischen Union Kurdistans (PUK) garantieren dort eine prowestliche Politik, vertragen sich gut mit Israel und suchen den Ausgleich mit der Türkei. Doch sie sind mit der Lage nach dem Juni-Blitzkrieg der IS-Milizen hoffnungslos überfordert.

Zwar gelang es den kurdischen Peschmerga-Milizen, den IS-Vormarsch zu stoppen und sogar die symbolisch bedeutsame Stadt Kirkuk mit den umliegenden Erdölfeldern unter ihre Kontrolle zu bringen. Doch dem zweiten Ansturm der Dschihadisten hatten sie Anfang August nichts mehr entgegenzusetzen. Kampflos räumten die Truppen ihre Stellungen in den Distrikten Sindschar und Machmur und überließen die ihnen zum Schutz befohlenen Menschen den mörderischen Gotteskriegern.

Um ihr nacktes Leben zu retten, flüchteten hunderttausende Christen, Jesiden, Turkmenen und Schiiten panisch nach Norden. Mehr als 1,2 Millionen Flüchtlinge strömten nach UN-Angaben seit Juni ins autonome Kurdistan. Die Vereinten Nationen haben die höchste Notfallstufe ausgerufen - erst zum vierten Mal in ihrer Geschichte. "Das ist eine riesige humanitäre Katastrophe, es kommt viel zu wenig internationale Hilfe", sagt der Gouverneur der nordirakischen Provinz Dohuk, Farhad Amin Atrushi. "Wir haben Angst, dass hier alles zusammenbricht - das hätte immense politische Folgen."

Erzrivale Öcalan

Da nicht nur die humanitäre, sondern auch die militärische Front zu kollabieren schien, flehte Präsident Barzani die Welt geradezu um militärische Hilfe an. Mit Erfolg, denn die USA, der Iran und sogar Russland schicken seither Waffen. Für Massud Barzani ist ein umfassender militärischer Erfolg von höchster Bedeutung. Der Vater von fünf Töchtern und drei Söhnen gilt zwar als der erfahrenste Politiker der gesamten Levante, doch die Schmach der flüchtenden Peschmerga hat sein Image bei der Bevölkerung stark lädiert. Tatsächlich standen die IS-Milizen bereits zwanzig Kilometer vor Erbil, als US-Präsident Barack Obama eine rote Linie vor der kurdischen Hauptstadt zog, die er militärisch zu verteidigen versprach. Damit hat er Präsident Barzani möglicherweise vor dem Sturz bewahrt.

Barsanis legendärer Ruf ist untrennbar verknüpft mit dem Mythos der Peschmerga als unbesiegbare Kämpfer aus den Bergen. Der seit 2005 amtierende Präsident der Autonomen Region gehört zum einflussreichen Stamm der Barzanis, deren Name sie in einer Kultur mit halbfeudalen Zügen praktisch zu geborenen Anführern macht. Sein Vater ist der berühmte Kurdenführer Mustafa Barzani, der seit 1958 zahlreiche Revolten gegen die Zentralregierung in Bagdad leitete.

Massud Barzani schloss sich der Peschmerga mit 16 an und übernahm nach dem Tod seines Vaters den Vorsitz der konservativen KDP, den er bis heute innehat. Als die USA nach Saddam Husseins Niederlage im Golfkrieg 1991 und dem damaligen Kurdenaufstand eine Flugverbotszone über dem Nordirak verhängten, entwickelte sich das Kurdengebiet fast selbständig und wurde nach der US-Invasion 2003 offiziell zur autonomen Region mit eigener Verfassung, Regierung und Streitkräften.

Bei demokratischen Wahlen siegte Barzanis KDP seit 2005 jeweils vor der politischen Konkurrenz, die lange vor allem aus der sozialdemokratischen PUK des langjährigen Rivalen Dschalal Talabani bestand. Noch in den 90er Jahren hatten sich die zwei Parteien einen blutigen Abnutzungskrieg geliefert, den sie nach dem Ende des Saddam-Regimes endgültig beilegten. Beide Clanführer haben sich seither in respektierte Politiker verwandelt, die sich im komplizierten politischen Umfeld des Irak behaupten konnten. Doch hat sich seit 2009 eine neue politische Kraft etabliert, die Goran (Wechsel) heißt und vor allem gegen die ausufernde Korruption auftritt. Ihre Anführer werfen Barzani vor, die Ausbildung, Bezahlung und Bewaffnung der Peschmerga sträflich vernachlässigt zu haben.

Die Blamage der 150.000 Mann starken Truppe ging zudem einher mit einem dramatischen Imagegewinn für den sozialistischen türkischen Kurdenführer Abdullah Öcalan, Barzanis politischen Erzrivalen um die Gunst der rund 30 Millionen im Nahen Osten. Es waren nämlich die Öcalan-treuen kurdischen Selbstverteidigungseinheiten (YPG) aus dem autonomen syrischen Kurdengebiet Rojava, die zusammen mit Kämpfern der in der Türkei operierenden Kurdenguerilla PKK rund 40.000 Jesiden aus dem Sindschar-Gebirge retteten.

Seither mehren sich im Nordirak die Stimmen, die von Barsani ein Ende seiner Blockadepolitik gegenüber den kurdischen Brüdern und Schwestern in Rojava fordern. Die fast totale Abriegelung Rojavas hatte Barzani zusammen mit dem türkischen Ex-Regierungschef Recep Tayyip Erdogan, seinem politischen Partner, Anfang 2012 verhängt, als die Öcalan-Anhänger dort an die Macht kamen. Die Rettung der Jesiden könnte die innerkurdischen Koordinaten nun dramatisch verschieben und die PKK vom Paria zum geachteten Akteur der Nahostpolitik befördern.

Das hätte Folgen für Barzanis wichtigstes Projekt - die Gründung eines Kurdenstaates. Falls der neue irakische Regierungschef Haidar al-Abadi scheitert, bereitet das kurdische Regionalparlament eine Volksabstimmung über die Unabhängigkeit vor. Angesichts der schlechten Erfahrungen der Kurden mit der Zentralregierung in Bagdad besteht über deren Ausgang kein Zweifel.

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