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Immer mehr getrennt

Von WZ-Korrespondent Fabian Kretschmer

Politik

Das 25-jährige Jubiläum des Falls der Berliner Mauer regt auch in Seoul Diskussionen über eine koreanische Wiedervereinigung an. Doch in Südkorea wächst die Distanz zum Norden.


Seoul. Er sprach mit dem Premierminister Südkoreas, traf die Wirtschaftselite des Landes und besuchte die innerkoreanische Grenze: Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff sammelte während seiner sechstägigen Südkorea-Reise viele Eindrücke aus erster Hand. Gegen Ende seines Aufenthalts soll der 60-Jährige nun auf Einladung der Konrad-Adenauer-Stiftung in Seoul über die Lehren der deutschen Wiedervereinigung referieren.

Als jemand, der die friedliche Revolution selbst miterlebt und gestaltet hat, ist der CDU-Politiker für dieses Thema geradezu prädestiniert. Dennoch müsse er das Manuskript, das er noch in Magdeburg ausgearbeitet hat, komplett über Bord werfen, sagt er. "Aus der Distanz heraus ist die Situation nur bedingt einschätzbar", meint Hasseloff, der das koreanische Publikum als "gemeinsame Leidensgenossen" begrüßt: "Die Erfahrung zeigt, dass sich die Geschichte nie wiederholt. Prognosen sind fast unmöglich."

Wiedervereinigung wäre enorme wirtschaftliche Last

Der Berliner Mauerfall jährt sich zum 25. Mal, und in Südkorea wird dieses historische Jubiläum vor allem dazu genutzt, die Aufmerksamkeit auf mögliche Wiedervereinigungsszenarien auf der koreanischen Halbinsel zu lenken. Politische Stiftungen aus Deutschland versuchen in Konferenzen, das deutsche Modell als Inspirationsquelle zu bewerben, von koreanischer Seite herrscht reges Interesse, in Richtung Europa im Jahr 1989 zu schielen. Die Erwartungshaltung ist hoch, die Analyse des Status quo fällt jedoch ernüchternd aus. "Das deutsche Modell kann höchstens als Inspirationsquelle dienen - als Blaupause ist es nicht geeignet", ist Rolf Mafael, deutscher Botschafter in Seoul, überzeugt.

Im Jahr 2014 wird in Südkorea darüber diskutiert, ob die Wiedervereinigung überhaupt notwendig ist. "Es wird immer auf die exorbitanten Kosten hingewiesen", sagt Mafael. Diese wären - zumindest mittelfristig - geradezu dramatisch. Betrug der Bevölkerungswohlstand der DDR ein Viertel von jenem der BRD, beläuft sich Nordkoreas Produktivität mittlerweile nur noch auf ein Vierzigstel des Südens. Zugleich leben dort 25 Millionen Menschen, in etwa halb so viele wie in Südkorea.

Die wirtschaftliche Last einer Wiedervereinigung wäre für den Süden allein wohl nicht zu stemmen. Der Ökonom Ulrich Blum von der Universität Halle-Wittenberg, der seit Jahren zu dem Thema forscht, schätzt die notwendigen Transfers nach Nordkorea auf das Drei- bis Vierfache der offiziellen Angaben, rund 265 Milliarden Dollar im Jahr. In Südkorea wird die Wiedervereinigung zunehmend als Bedrohung wahrgenommen, den hart erarbeiteten Wohlstand zu verlieren.

Es gibt eine Reihe an Faktoren, die eine Wiedervereinigung der koreanischen Halbinsel erschweren: Aufgrund der Isolation des Nordens gibt es praktisch keinen innerkoreanischen Austausch in der Bevölkerung. Konnten DDR-Bürger zumindest "Westradio" empfangen, sind die Nordkoreaner rein auf Staatspropaganda angewiesen. Verwandtschaftsbesuche sind nicht möglich, auch die physische Erfahrung des Eingegrenzt-Seins fehlt: Südkoreaner etwa dürfen sich der Demarkationslinie nicht nähern. Die Sichtbarkeit der Grenze sei psychologisch jedoch wichtig gewesen, erinnert sich Haseloff. Als Student an der Ostberliner Humboldt-Universität schlenderte er täglich an der Mauer entlang: "Ich konnte sehen, wo unsere Welt endet."

Eine Studie der Seouler Nationaluniversität ergab 2010, dass nur noch 49 Prozent aller 20- bis 30-Jährigen eine Wiedervereinigung als notwendig betrachten - so niedrig war die Bereitschaft dazu noch nie. Und die Bevölkerung, die tatsächlich noch das geeinte Land miterlebt hat, stirbt allmählich aus. Weniger als 10 Prozent aller Südkoreaner sind vor 1940 geboren. Beide Koreas verlieren einander sprichwörtlich aus den Augen. Selbst die gemeinsame Sprache entwickelt sich zunehmend unterschiedlich, sodass unter der jungen Generation der Eindruck schwindet, einem gemeinsamem Volk anzugehören. Auch in der älteren Bevölkerung herrschen tiefe Ressentiments gegenüber dem Norden. Diese gehen nicht zuletzt auf den Korea-Krieg zurück, bei dem mehr als 3,5 Millionen koreanische Bürger getötet wurden.

"Die Teilung Koreas scheint für niemanden ein Problem zu sein, außer für das koreanische Volk", sagt Professor Werner Patzelt, der das Politikinstitut der Technischen Universität Dresden leitet. Für China würde eine Wiedervereinigung vor allem die Gefahr bergen, künftig US-Truppen direkt vor seiner Grenze positioniert zu haben. Und Japan befürchtet längerfristig ein erstarktes Korea. Doch gerade die deutsche Wiedervereinigung hat gezeigt, wie wichtig die umliegenden Staaten waren: "Wenn nicht der ganze Kontinent dafür gewesen wäre, dass der Eiserne Vorhang fällt, wäre all unser Tun umsonst gewesen", sagt Haseloff.

Letztlich fehlt es in Südkorea auch an Persönlichkeiten in der Politik, die das Thema vorantreiben könnten. Präsidentin Park Geun-hye spricht sich für die Notwendigkeit einer Wiedervereinigung aus, doch letztendlich bleiben das Lippenbekenntnisse. Und wenn die Politiker der beiden Länder, die sich formal noch immer im Kriegszustand befinden, einmal zusammenkommen, dann werden höchstens kleine Schritte der Annäherung gesetzt. So beschlossen am Wochenende am Rande der Asien-Spiele im südkoreanischen Incheon Vertreter beider Seiten, dass zumindest Gespräche auf Spitzenebene wieder stattfinden sollen.

Teilung hat Demokratie im Süden vorangetrieben

"Eine Wiedervereinigung wird nicht erreicht, weil beide Koreas einen absoluten Anspruch haben", sagt Ra Jong-il, ehemaliger Leiter des südkoreanischen Nachrichtendienstes. Keine der beiden Seiten sei bereit, Zugeständnisse zu machen. Die einzige Variante, bei der Südkorea eine Wiedervereinigung anführen könne, bedinge den Zusammenbruch des Regimes von Kim Jong-un in Nordkorea.

"Tatsächlich hat der Korea-Konflikt dem Süden auch einige Vorteile gebracht", sagt Ra. Der wirtschaftliche Wettbewerb mit dem Norden habe die Industrialisierung vorangetrieben, und auch die Demokratisierung wurde beschleunigt, indem man sich von der totalitären Diktatur im Norden abgrenzen wollte. Als die Mauer fiel, befand sich Ra zufällig in Berlin. Er habe die friedliche Revolution als Glücksfall empfunden, erinnert er sich, doch einer seiner ersten Gedanken damals war: "In Korea wird es nicht so leicht dazu kommen."

Seit fast 70 Jahren sind die beiden Koreas mittlerweile getrennt, weit länger, als Deutschland es war. Andererseits kann man auf eine mehr als tausendjährige gemeinsame Geschichte zurückblicken. In Deutschland hingegen, sagt Professor Patzelt, sei Einigkeit lange Zeit die Ausnahme gewesen und Teilung die Regel.