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Leben im Kalifat

Von WZ-Korrespondentin Birgit Svensson

Politik

Die Terrormiliz IS festigt ihren Staat, führt den Sozialismus im Wohnungsmarkt ein, verbietet Alkohol, Zigaretten und Dosennahrung. Im Sammeltaxi nach Kirkuk erzählen Flüchtlinge ihre Geschichte.


Kirkuk. Das ganze Ausmaß der Tragödie Iraks zeigt sich im Sammeltaxi von Erbil nach Kirkuk. Der massige Marwan, der neben dem Fahrer Platz genommen hat und 5000 irakische Dinar (4,50 Euro) mehr bezahlt hat als die Mitfahrer hinten. Der nervöse Youssef, dessen Blick ständig von der Windschutzscheibe zu den Seitenfenstern wandert. Der alte Ahmed, der in sich ruhend zu dösen scheint, aber hellwach wird, wenn sein kleiner Enkelsohn von seinen Knien zu rutschen droht. Knapp 80 Kilometer trennen die Metropole Erbil im autonomen Irak-Kurdistan von der Ölstadt Kirkuk. Dorthin sind nun Marwan, Youssef und Ahmed unterwegs, die alle drei vor IS geflohen sind.

Marwan kann nicht mehr. Bis jetzt harrte er in Mosul aus, blieb in seinem Haus in seiner Stadt, auch als die "finsteren Kerle" des IS immer mehr wurden und anfingen, die Stadt zu beherrschen. "Anfangs haben wir noch geglaubt, dass die wieder abhauen, nachdem sie die Regierenden in die Flucht getrieben haben", erzählt er.

Diejenigen, die dann die Verwaltung übernahmen, waren bekannt in der Stadt. Es waren Leute, die schon zu Saddam Husseins Zeiten in den Ämtern saßen. Deshalb habe es auch keinen größeren Widerstand gegeben. Marwan selbst konnte seinen angestammten Platz in der Stadtverwaltung wieder erlangen. "Alles wie früher, dachten wir." Wo das Geld für die Löhne herkam, wusste er nicht. Hauptsache, es wurde pünktlich bezahlt. Das war man von den neuen Herren nach dem Sturz Saddams nicht gewohnt.

Die nicht enden wollenden Streitigkeiten zwischen den politischen Fraktionen in Stadt- und Provinzrat und der Kampf mit der Zentralregierung in Bagdad hatten die Entwicklung Mosuls gelähmt. Korruption und Vetternwirtschaft taten ein Übriges. "Die Menschen waren es leid", erklärt Marwan die eingangs breite Zustimmung der Stadtbewohner für Daesh, wie der IS auf Arabisch heißt.

Mit zwei Millionen Einwohnern ist Mosul die drittgrößte Stadt Iraks und die erste Stadt, die vom IS überrollt wurde. Danach folgten Tikrit und weitere Städte.

Mehr als acht Millionen Menschen sollen inzwischen unter der Terrorherrschaft des IS leben. Daesh kontrolliert ein Territorium von Westirak bis nach Ostsyrien, flächenmäßig vergleichbar mit Großbritannien, auch wenn Städte wie Kobane oder die Berge von Sinjar mittlerweile zurückerobert werden konnten. Doch das sind minimale Niederlagen, wenn man die knapp 230.000 Quadratkilometer bedenkt, die das ausgerufene Kalifat umfasst.

Strikte Geschlechtertrennung

Wer nicht geflohen ist, den hat sich der IS untertan gemacht. Marwan war bis jetzt einer dieser Untertanen. Und das bedeutete: Keine Musik außer islamischen Gesängen, kein Alkohol und vor allem: Geschlechtertrennung - auch in Form von Verschleierung aller Mädchen und Frauen. Selbst für Marwan, einen streng gläubigen sunnitischen Araber, ist das zuviel, obwohl gerade er die besten Chancen hätte, dort klar zu kommen. Der IS ist sunnitisch geprägt und verfolgt eine rigide Auslegung der sunnitischen Rechtslehre. "Aber das ist doch kein Leben mehr", begründet der 46-Jährige seine Flucht. Jetzt sei sogar der Verkauf von Dosennahrung verboten worden. Dies sei gegen die Scharia, lautete die Begründung. Die Geschäftsbesitzer hätten deshalb ihre Dosen mit Bohnen, Linsen und Obst aus den Regalen genommen.

Auch Youssef war in Mosul. Zwei Tage lang. Er schlich um das Haus, das er einmal bewohnte, und versuchte, Dokumente und Papiere zu holen, um sich bei den Behörden als einer von über zwei Millionen Binnenflüchtlingen ausweisen zu können. "Doch dort wohnt jetzt Daesh", hat er von den Nachbarn erfahren. Unverrichteter Dinge fuhr er wieder.

Die Christen wurden als erstes aus Mosul vertrieben, als der IS kam. Die Gotteskrieger nahmen ihnen alles: Immobilien, Häuser, Schmuck, auch die Frauen. Christinnen wurden verschleppt und vergewaltigt. Mit Megafonen wurden sie aufgefordert, zum Islam zu konvertieren, die Christensteuer, die im Koran Dschizya genannt wird, zu zahlen oder zu gehen. Die meisten gingen.

Die Christen wurden vertrieben

Youssef sagt, es gäbe keine Christen mehr in Mosul. "Nachdem die Christen weg waren, haben sie die Jesiden angeschleppt", hat der 52-jährige Chaldäer erfahren. Die Jesiden wurden aus Sinjar nach Mosul verschleppt.

Youssef gehört der größten christlichen Gruppierung an, die der Irak in seiner ethnischen und religiösen Vielfalt aufweist. Allerdings hat deren Zahl sich seit dem Einmarsch der Briten und Amerikaner im Jahre 2003 und dem damit aufkommenden Terror halbiert. "Die Jesiden werden so wie wir als Ungläubige angesehen und gelten denen als Freiwild." Youssef hörte, dass die Frauen zwangsverheiratet und wie Sklavinnen behandelt werden. Wie die Barbaren fielen die IS-Kämpfer über sie her.

Im Westen wird der IS vor allem als brutale Terrormiliz wahrgenommen. Tatsächlich ist er weit mehr als das und wahrscheinlich deshalb kein kurzlebiges Phänomen. Schätzungen gehen davon aus, dass mittlerweile 100.000 Kämpfer dem IS angehören. Auch Ahmed mischt sich in die Diskussion ein. Ihm hätten sie das Haus genommen, berichtet der Turkmene. Seine Heimat ist Tilkef, die nördlichste vom IS eingenommene Stadt. Als Daesh kam, war er nicht zu Hause. IS-Kämpfer hätten alle Häuser beschlagnahmt, die unbewohnt waren. Jetzt würden sie Miete kassieren, obwohl es sein Haus sei. Der Immobilienmarkt im Kalifat ist inzwischen einheitlich geregelt: 83 Dollar zahlen Mieter für eine Wohnung pro Woche, 125 Dollar für ein Haus. Die Mieten werden nicht an die ursprünglichen Eigentümer abgeführt, sondern an die Daesh-Verwaltung. Das gelte für Tilkef, Mosul und auch für die Provinz Anbar, haben die drei Männer im Sammeltaxi erfahren. "Daesh führt den Sozialismus ein", witzelt Marwan.

Am Kontrollpunkt vor Kirkuk ist die Fahrt vorbei. Neu ankommende Flüchtlinge werden zunächst registriert und vom kurdischen Geheimdienst vernommen. Jetzt müssen Marwan, Youssef und Ahmed noch einmal ihre Geschichte erzählen.