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Die Praxis des Weltverbesserns

Von Saskia Blatakes

Politik
Wachstum ist nicht alles, predigt Welzer.
© Blatakes

Der deutsche Sozialpsychologe Harald Welzer über Privilegien, Verzicht und die katastrophale Entwicklung der Share Economy.


"Wiener Zeitung": Ihr populärstes Buch heißt "Selbst denken - Eine Anleitung zum Widerstand." Müssen wir wirklich angeleitet werden?

Harald Welzer: Angesichts all der Probleme wie Finanzkrise, Klimawandel, Demokratiegefährdung durch Sicherheitsdienste et cetera muss man schon verdutzt sein, wie ausgesprochen passiv die Menschen sind, obwohl so vieles passiert, das sich gegen ihre Interessen richtet. Da muss man sich schon wundern, warum nicht mehr mobilmachen.

Wir sind diejenigen, die deprivilegiert werden müssen", sagen Sie.

Widerstand heißt vor allem Widerstand gegen sich selbst. Das heißt, sich nicht dauerhaft von den ganzen Komfortangeboten verführen zu lassen. Wir brauchen unbedingt eine Repolitisierung, die bei jedem selber beginnt.

Ihre Vision heißt "reduktive Moderne", Sie predigen Verzicht. Haben Sie noch Freunde?

Das nimmt ja keiner ernst, die denken ja alle, der sagt das nur so (lacht). In dieser Dialektik sind wir gefangen. Auf der anderen Seite stimmen alle zu, aber wenn es dann zum Schwur kommt, ist es plötzlich nicht mehr so ernst gemeint, denn wer will schon seine Privilegien aufgeben. Ich muss ja selber auch ehrlicherweise sagen, dass ich extrem viele Privilegien habe, von denen ich einige aufgeben könnte.

Worauf können Sie selbst zugunsten des Umweltschutzes verzichten, wo fällt es Ihnen schwerer?

Für mich wäre es zum Beispiel ziemlich einfach, weniger zu reisen. Das strengt ohnehin sehr an und ich empfinde es auch langsam nicht mehr als besonders förderlich. Aber was das Wohnen angeht, da möchte ich mich ungern einschränken, obwohl es sich nicht leugnen lässt, dass ich viel zu großzügig wohne.



Vor ziemlich genau drei Jahren gründeten Sie die Stiftung "Futurzwei", die Sie als PR-Agentur für soziale Bewegungen bezeichnen. "Ein Professor geht ins wahre Leben", schrieb damals die Wochenzeitung "Die Zeit". Wie lautet Ihre Bilanz?

Die Bilanz fällt wesentlich positiver aus, als ich das jemals erwartet hätte. Und zwar nicht nur quantitativ - sprich wer besucht die Seite und wer kauft die Bücher. Das Erstaunliche ist die Zahl und die Unterschiedlichkeit der Leute, die sich bei uns melden. Auch aus Wirtschaft und Politik sind viele dabei und keineswegs nur aus dem grün-alternativen Spektrum. Das sind einfach Leute, die merken, wir brauchen eigentlich eine andere Perspektive, wenn wir darüber nachdenken, wie die Gesellschaft weiterhin funktionieren soll. Normalerweise hat man das Problem, dass man immer den Gläubigen predigt, bei Futurzwei ist das nicht der Fall. Sogar Bundestagsabgeordnete konservativer Parteien wenden sich an uns, weil sie Unterstützung dabei brauchen, ihre Parteikollegen zu überzeugen. Das ist schon sehr erstaunlich.

Steckt da wirkliches Interesse dahinter oder geht es nicht oft um eine Feigenblatt-Rhetorik in Bezug auf Umweltschutz, Energiewende und Nachhaltigkeit?

Ich glaube schon, dass viele Probleme der Postwachstumsgesellschaft sich bis ins konservative Lager hinein aufdrängen. Es geht so nicht weiter. Nun können die das nicht unbedingt zur offiziellen Parteilinie machen, aber dennoch nach Wegen suchen, wie man weiterkommt. Auch einer konservativen Klientel kann man nahebringen, dass Wachstum nicht alles ist.

Der Stiftung geht es ja auch um das Sammeln und Aufzeigen von alternativen Initiativen und neuen Wirtschaftsformen. Welche Idee hat Sie in der letzten Zeit am meisten beeindruckt?

Erst vor kurzem habe ich von der Initiative "Silent University" erfahren. Das sind universitäre Kurse, die von Flüchtlingen gehalten werden. Unter den Flüchtlingen gibt es unwahrscheinlich viele Hochschullehrer und -lehrerinnen. In der öffentlichen Wahrnehmung sind Flüchtlinge immer nur eine Masse von Menschen, die man irgendwo unterbringen muss. Solche Ideen sind sozial intelligent, weil sie das Flüchtlingsthema umdrehen. So wird aus der Belastung eine Bereicherung.

Welche Ideen könnten breiter umgesetzt werden?

Alle Formen der Genossenschaften, wie Energiegenossenschaften oder Fahrgemeinschaften für den ländlichen Raum - da gibt es sehr viel. Auch die Idee der "essbaren Städte", Stadtgrün produktiv zu nutzen, gehört dazu. Ich meine jetzt nicht Gemeinschaftsgärten, sondern öffentliche Stadtgärten.

Damit könne man keine Stadt ernähren, sagen Kritiker.

Jede Kritik, die in Richtung "das reicht nicht" geht, finde ich vollkommen uninteressant. Weil natürlich nichts reicht, aber das ist kein Werturteil. Auch wenn nur eine einzelne Person etwas unternimmt, ist es mehr, als würde man gar nichts tun. Vor allem geht es auch darum, dass die Menschen die Stadt wieder als ihre Stadt interpretieren und nicht nur als etwas Vorgesetztes.

Bei aller Freude über die guten Ideen - die Ungerechtigkeit ist im Wachsen begriffen und steuert laut dem populären Wirtschaftswissenschafter Thomas Piketty auf das Niveau feudaler Zeiten zu. Was hat der Kapitalismus für uns getan, fragten Sie bei Ihrem Vortrag anlässlich des Kongresses "Gutes Leben für alle" in Wien und sprachen über den Wohlstand der Moderne. Hat den wirklich der Kapitalismus geschaffen?

Eine sehr wichtige Frage. Wie sortieren wir historische Bestände? Die Alphabetisierung, die rechtliche Gleichstellung, die Einführung der allgemeinen Schulpflicht, die Abschaffung der Kinderarbeit etc. - all diese Faktoren haben unwahrscheinlich viel für uns getan. Es war auch nicht nur die Industrialisierung, die uns Wohlstand brachte, die Aufklärung gehört untrennbar dazu. Aber das Referenzsystem, das all das bewegt, ist das kapitalistische Wirtschaftssystem. In der Nachkriegszeit erschien dieses System in der Form eines gehegten, befriedeten Kapitalismus und der sozialen Marktwirtschaft. Das war kein losgelassener Kapitalismus libertärer Prägung wie heute. Es ist absurd, wenn heute die Silicon-Valley-Unternehmer sagen, der Staat sei für sie hinderlich. Diese Firmen gäbe es nicht, wenn der Staat keine Bildung bereitgestellt hätte. All diese kleinen Jungs, die jetzt Milliarden verdienen, sind doch in öffentliche Schulen gegangen.

In Silicon Valley sitzen ja auch viele Firmen der Share Economy, wie Airbnb. "Netzwerke ersetzen Märkte", träumt US-Ökonom Jeremy Rifkin. Ist das eine neue Form der Ökonomie, die allen nützt?

Die neoliberale Vereinnahmung wirtschaftlicher Verhältnisse beschränkte sich vorher auf Räume, die immer schon ökonomische Räume waren, wie Arbeit, Produktion und zum Teil auch Reproduktion. Bei der Share Economy gerät auch der Raum der sozialen Beziehungen unter dieses Verdikt. Alles wird monetarisierbar. Das ist eine ganz katastrophale Entwicklung. Auch volkswirtschaftlich, weil das Firmen mit ganz wenigen Angestellten sind, die keine Arbeitsplätze schaffen. Im Gegenteil, da werden Arbeitsplätze und vor allem auch arbeitsrechtliche Standards zerstört, die über Jahrzehnte mühsam erkämpft wurden. Und plötzlich sind diese kleinen Firmen drei Milliarden wert. Das ist ein parasitäres System, bei dem mir ganz schlecht wird. Ich muss mir selber vorwerfen, dass ich selbst, als diese Ideen aufkamen, viel zu naiv gewesen bin, zu verstehen, dass das natürlich sofort okkupiert werden kann. Das ist das eigentliche Occupy. Airbnb und Konsorten sind die Okkupanten von Sozialbeziehungen.

Harald Welzer, 1958 in Hannover geboren, ist Soziologe,
Sozialpsychologe, Honorarprofessor für Transformationsdesign sowie
Mitbegründer der gemeinnützigen Stiftung Futurzwei. Er hat zahlreiche
Bücher veröffentlicht, darunter "Klimakriege - Wofür im 21. Jahrhundert
getötet wird". In Wien sprach er zuletzt an der Wirtschaftsuniversität
bei dem Kongress "Gutes Leben für alle".