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"Hier haben wir gelebt"

Von WZ-Korrespondent Frank Nordhausen

100 Jahre nach dem Armenier-Genozid hat die Türkei Angst vor Reparationsforderungen. In Diyarbakir haben sich nach dem | Ersten Weltkrieg wieder tausende Armenier niedergelassen. Heute bekennen sich nur 15 oder 20 zu ihren Wurzeln.


Istanbul/Diyarbakir. "Hier haben wir gelebt, der Erker war unser Wohnzimmer, unten waren Küche, Bad und Lagerräume", sagt Ergün Ayik und deutet auf die Ruine des alten Steinhauses in der Altstadt der Millionenmetropole Diyarbakir im kurdischen Südosten der Türkei. "Alle Häuser in dieser Gasse waren einmal Eigentum von Armeniern. In einer blühenden Stadt. Nun schauen Sie sich an, wie es heute aussieht!" Nicht gut, kann man sagen. Die meisten Häuser sind verfallen, mit hässlichen Anbauten versehen, die Dächer renovierungsbedürftig. Nur gegenüber dem baufälligen Wohnhaus, da ist ein kleines Wunder zu bestaunen: die perfekt restaurierte St. Giragos-Kathedrale, deren Grundmauern auf das 14. Jahrhundert zurückgehen. Die einzige intakte von einst 13 armenischen Kirchen in der Stadt. Ergün Ayik, ein sehr ernster, kleiner Mann mit einem melancholischen Zug um die Augen, hat wesentlich dafür gesorgt, dass die alte armenische Hauptkirche Diyarbakirs neu erstanden ist, mit Geld der Stadt, vor allem aber mit Spenden der weltweiten armenischen Diaspora.

Der 71-jährige Vorsitzende der Armenierstiftung von Diyarbakir führt seinen Besucher ins Innere dieser größten armenischen Kirche im Nahen Osten. "Sieben Altäre, das ist einzig in der Welt", sagt Ayik in gutem, etwas altmodischem Deutsch, das er auf dem Deutschen Gymnasium in Istanbul lernte. Er lässt den hohen Sakralraum auf den Besucher wirken. "Diese Kirche wird wieder von uns genutzt, von den letzten Armeniern in Diyarbakir."

In der Nacht zu Freitag wird in der St. Giragos-Kathedrale ein Konzert zum hundertsten Gedenken des Völkermords an den Armeniern im Osmanischen Reich abgehalten. Wie in Diyarbakir wird dann weltweit des 24. Aprils 1915 gedacht, als die Regierung rund 250 armenische Intellektuelle und Gemeindevorsteher verhaften ließ. Anschließend wurden hunderttausende Armenier aus ihren Häusern in Anatolien getrieben und gezwungen, hunderte von Kilometern in die Wüste des heutigen Syriens zu marschieren. Nach Schätzungen westlicher Historiker starben zwischen 1915 und 1918 bis zu 1,5 Millionen Armenier im Osmanischen Reich durch Entkräftung, Hunger oder Massaker.

21 Staaten bezeichnen die Ereignisse inzwischen als Genozid - nicht die Türkei, wo der Völkermord offiziell mit "die Ereignisse von 1915" umschrieben wird. "Die Türkei hat Angst, dass die Armenier ihr Eigentum zurückfordern und sie Reparationen zahlen muss", sagt Ayik. "Dabei ist die Sache einfach: Zwei Millionen Armenier waren früher hier, warum sind sie weg? Wer verlässt einfach so sein Vaterland?"

"Gesammelt und verschleppt"

In der Provinzhauptstadt Diyarbakir lebten damals rund 40.000 Menschen, die Hälfte von ihnen Armenier. Ergün Ayik berichtet sachlich vom Grauen der Deportationen: "1915 wurden die Armenier gesammelt und verschleppt, mit der vollen Absicht, sie zu ermorden. Ihr Besitz wurde geraubt, ihre Häuser von Kurden besetzt. Nur etwa fünf Prozent der Armenier aus Diyarbakir kehrten zurück." Weil die Stadt für sie als halbwegs sicher galt, ließen sich 5000 bis 6000 Überlebende des Völkermords aus ganz Anatolien nach dem Ersten Weltkrieg wieder in Diyarbakir nieder. Viele konvertierten zum Islam, weil sie als Christen ständigen Anfeindungen ausgesetzt waren. Viele erklärten ihren Kindern erst am Ende ihres Lebens, dass sie Armenier seien. Einige sagten es ihnen nie. Vor fünf Jahren hätten sich in Diyarbakir genau zwei Menschen, ein Ehepaar, öffentlich dazu bekannt, christliche Armenier zu sein, sagt Ayik. "Heute sind es 15 bis 20 Leute, aber alles Alte. Andererseits gibt es einige Tausend, die von sich sagen, dass sie Armenier sind, aber zum muslimischen Glauben konvertierten."

Die fünf Brüder seiner Großmutter väterlicherseits wurden ebenso ermordet wie der Großvater und dessen fünf Geschwister. "Alle tot", sagt Herr Ayik mit seiner traurigen Stimme. Seine Großmutter hat in der Kleinstadt Lice rund 50 Kilometer nordöstlich von Diyarbakir wie durch ein Wunder überlebt. "Sie kannte sich mit Naturheilkunde aus, sie wurde gebraucht, deshalb konnte sie am Leben bleiben." Auch zwei Schwestern seiner Großmutter retteten sich, indem sie Türken heirateten und Muslime wurden. Sie waren die einzigen erwachsenen Überlebenden in Lice. Sonst kamen nur einige Kinder davon, darunter Ayiks Vater, der damals drei Jahre alt war. "Wir hatten 15 große Felder in Lice, alle wurden uns genommen", sagt Ayik.

Während Ayiks Großmutter in Lice blieb, zog der Vater, als er erwachsen war, nach Diyarbakir, wo er das Haus gegenüber der Kathedrale kaufte und ein Kleidergeschäft aufmachte. 1952 entschied der Vater, mit seiner Familie nach Istanbul zu gehen. Viele christliche Armenier zogen im Lauf der Zeit an den Bosporus, weil sie in Diyarbakir auf der Straße angepöbelt wurden. "Armenier" gilt in der Türkei heute noch als Schimpfwort. Ergün Ayik übernahm in Istanbul später den Lederhandel seines Vaters und wurde wohlhabend damit. Gleichzeitig engagierte er sich in der armenischen Gemeinde. Seit 20 Jahren ist er Vorsitzender einer der offiziell anerkannten kirchlichen armenischen Stiftungen, die lange Zeit als Einzige befugt waren, armenisches Restvermögen in der Türkei zu verwalten.

Vor drei Jahrzehnten begann er, Dokumente zusammenzutragen, die den Grundbesitz der Kirche in Diyarbakir belegten. Aus einem alten Heft weiß er, dass ihr einst 190 Grundstücke in der Stadt gehörten. Viele werden heute entweder vom Staat genutzt, der darauf Schulen, Krankenhäuser oder Verwaltungsgebäude errichtete, oder von Privatpersonen, die keine gültigen Eigentumsrechte haben.

Bürokratische Hürden und restriktive Gesetze machten es bis zur Jahrtausendwende fast unmöglich, verlorenes Eigentum einzuklagen. Das änderte sich, als 2002 eine neue Regierung an die Macht kam, die versprach, die Rechte religiöser Minderheiten zu achten. Tatsächlich liberalisierte die islamisch-konservative Regierungspartei AKP unter dem damaligen Minister- und heutigen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan im Rahmen der EU-Beitrittsgespräche ab 2005 die einschlägige Gesetzgebung. Klagerechte wurden erleichtert, einzelne Besitztümer zurückerstattet. Vor sechs Jahren zog auch Ayiks kirchliche Stiftung in Diyarbakir vor Gericht, um die Rückgabe des beschlagnahmten Grundbesitzes zu erreichen.

"Wir haben 30 Grundstücke zurückbekommen und einige Prozesse gegen den Staat gewonnen, die sind jetzt in der höheren Instanz", sagt Ayik. Trotz ihres Wiedergutmachungsversprechens habe die Regierung vor Gericht stets Berufung eingelegt. "Wir warten", sagt er. Die Restitution armenischen Eigentums ist in der Türkei ein ebenso großes Tabu wie die Bezeichnung der Massaker als Völkermord. Der Istanbuler Historiker Mehmet Polatel, Autor der ersten größeren wissenschaftlichen Studie über die Massenenteignung der Armenier, nennt diese "nicht nur einen Eigentumstransfer, sondern einen entscheidenden Teil der Völkermordpolitik zur Vernichtung der Armenier und des Armeniertums".

Bankkonten verstaatlicht

Von Mai bis November 1915 erließ das damals regierende jungtürkische Komitee Gesetze und Verordnungen, die die Enteignung und Verteilung des armenischen Eigentums an türkische Einwanderer aus dem Balkan und dem Kaukasus regelten. Ähnlich wie jüdischer Besitz unter den Nazis wurden armenische Bankkonten verstaatlicht und "aufgegebene" Liegenschaften vom Staat eingezogen - bis in die 1980er Jahre. Junge türkische Historiker argumentieren, dass der moderne türkische Staat und seine Ökonomie wesentlich auf dem geraubten Besitz der Armenier, Assyrer, Griechen und anderer Minderheiten errichtet wurde.

Die kirchlichen armenischen Stiftungen, die Grundbesitz nachweisen konnten, haben diesen in vielen Fällen inzwischen zurück- oder Ersatzgrundstücke erhalten, die Millionen Euro wert sind. Ein unbestreitbarer Erfolg. Anders als bei Kirchen und Schulen, deren Papiere in Archiven liegen, haben Armenier es privat aber schwer, die enteigneten Besitztümer zu belegen. Viele konnten bei der Vertreibung nichts anderes mitnehmen, als sie am Körper trugen.

"Viele Dokumente gingen verloren", sagt Ergün Ayik. Da seine Großmutter nicht vertrieben wurde, konnte sie die Unterlagen der Familie bewahren. Ayik holt eine Mappe mit Papieren. Zeigt alte Schwarzweißfotos von seinem Großvater, der Großmutter, dem Vater und dessen Schwestern. Zieht schließlich Papiere voller Stempel und Marken hervor. "Hier, das sind unsere Grundbuchblätter." Ergün Ayik ist einer der ersten Armenier, die in der Türkei privat auf Rückgabe ihres verlorenen Eigentums klagten. "Seit vier Jahren kämpfe ich vor Gericht darum, fünf Felder habe ich schon zugesprochen bekommen." Ayik sagt, der reale Wert sei gering, auf dem Land bauten Kurden jetzt Weizen an, er werde es ihnen nicht streitig machen. "Ich lebe hier und will keine neue Ungerechtigkeit. Aber ich will moralisch mein Recht. Denn diese Felder sind das Erbe meiner Großeltern."

Sein Rechtsvertreter ist Ali Elbeyoglu, der einzige Anwalt für Grundstücksangelegenheiten der zehn kirchlichen Stiftungen von Armeniern, Assyrern, Griechen in der Türkei. "Es ist eine sehr spezielle Materie, die lange niemand anzutasten wagte", sagt er. In 24 Jahren Praxis mit etwa 4000 Rückgabeverfahren hat sich Elbeyoglu das nötige Fachwissen angeeignet. Er vertritt etwa 500 Armenier in rund 60 Eigentumsverfahren, 1000 einschlägige Klagen betreut die Kanzlei derzeit. "Im Moment bekomme ich täglich neue Anfragen, um Mandate zu übernehmen. Aber zeitlich ist es nicht mehr zu schaffen."

Nachdem es jahrzehntelang praktisch keine Rückerstattungen gab, habe sich seit einem positiven Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte von 1987 die Politik langsam geändert, seien erste Urteile akzeptiert, Grundstücke zurückgegeben und Entschädigungen gezahlt worden, sagt Elbeyoglu. "Aufgrund neuer Gesetze wurden die Verfahren dann in den letzten sieben bis acht Jahren auch für Privatpersonen erleichtert."

So auch für Zuart Sudjian, eine 94-jährige Armenierin, die in Kalifornien lebt und deren Familie 1915 aus Diyarbakir vertrieben wurde. Ohne ihr Wissen wurde die Familie in den 1960er Jahren enteignet, da sie angeblich "unauffindbar" sei. Sie besaß ausgedehnte Ländereien bei Diyarbakir, auf denen unter anderem der Provinzflughafen angelegt wurde. 2012 klagte Anwalt Elbeyoglu auf Rückgabe des Familienerbes. Das örtliche Verwaltungsgericht verwarf die Klage zunächst, doch die Berufungsinstanz ließ sie zu. "Im Jänner haben wir den Prozess vor dem höchsten ordentlichen Gericht der Türkei, dem Kassationsgerichtshof Yargitai, gewonnen", sagt Elbeyoglu lächelnd. 200 Millionen Dollar wurden der Erbengemeinschaft zugesprochen, aber noch nicht ausgezahlt.

Kataster vorhanden

Da die osmanische Bürokratie sehr gründlich arbeitete, sind die meisten alten Verzeichnisse heute noch in den Archiven zu finden. "Die Grundbuchkataster sind in der Regel vollständig vorhanden. Man muss nur die richtigen finden", sagt Elbeyoglu. "Die Archivrecherche ist schwierig, weil die Kläger oft die genaue Lage ihres Landes nicht kennen. Die Ortsnamen wurden verändert, die Grundtitel sind in osmanischer Schrift verfasst, die kaum noch jemand lesen kann. Aber wir sind darauf spezialisiert, und es läuft sehr gut. Noch ist kein Fall gerichtlich geklärt, aber wir haben auch noch keinen letztinstanzlich verloren. Am Ende steht ohnehin der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, wo die Kläger wegen der eindeutigen Rechtslage gewinnen." Als Rechtsnachfolger des Osmanischen Reiches sei die Türkei an dessen Gesetze und internationale Verträge gebunden. "Das bedeutet, das Land gehört den Armeniern, wenn sie es nachweisen können. Wird das Grundstück vom Staat genutzt, klagen wir sofort." Der Anwalt traut sich nicht zu, den Gesamtwert der armenischen Besitztümer in der Türkei zu beziffern. "Die Sache wird täglich größer, es geht um tausende Grundstücke."

Dossier: Armenischer Genozid