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Wie aus heiterem Himmel?

Von Veronika Eschbacher, Klaus Huhold und Michael Schmölzer

Politik

Die Zahl der nach Europa Flüchtenden hat explosionsartig zugenommen. Das deshalb, weil Syriens Nachbarländer jetzt endgültig überfordert sind und die Aussicht auf Rückkehr in die Heimat immer unrealistischer wird. UN-Hilfe wird kaputtgespart. Afghanistan ist nach dem kürzlich erfolgten Nato-Abzug unsicherer denn je.


Wien/Damaskus/Kabul/Belgrad. Die Zahl derer, die nach Europa flüchten, ist in den letzten Monaten explosionsartig gestiegen. Seit Beginn des Jahres sind 300.000 Menschen allein über das Mittelmeer geflohen, mehr als 2100 sind dabei ums Leben gekommen. 200.000 Menschen sind aus der Türkei kommend nach Griechenland und Bulgarien gereist, um über Mazedonien, Serbien und Ungarn in den gelobten Westen zu gelangen. Auch die Westbalkan-Route fordert ihre Opfer - 71 Flüchtlinge sind in Österreich an der Ostautobahn tot aufgefunden worden.

Europa ist wie vor den Kopf gestoßen, doch sind es ganz handfeste Gründe, warum die Karawanen der Verzweifelten gerade jetzt Europa ansteuern: Der Krieg in Syrien wird immer brutaler, die Nachbarländer sind endgültig überfordert. Die, die gehofft haben, dass sie wieder in ihre Heimat zurückkönnen, haben den Glauben daran verloren. In Afghanistan wird der Taliban-Terror nach dem Abzug der Nato, die Friede und Wohlstand schaffen wollte, immer schlimmer.

Dass sich die Kämpfe um Aleppo und Damaskus in Syrien in den letzten Monaten verschärft haben, wird von der UNHCR bestätigt: "Wer jetzt flüchtet, gehört oft zur Mittelklasse. Das sind Leute aus Damaskus, aber hauptsächlich aus Aleppo", sagt die UNHCR-Sprecherin Melita H. Sunjic im Gespräch mit der "Wiener Zeitung". "Sie alle berichten, dass die Kampfhandlungen in den letzten Monaten in ihren Städten eskaliert sind. Sie haben die Hoffnung verloren, dass es eine baldige Lösung gibt. Was sie noch an Geldpolstern haben, haben sie genommen, um ihre Familien in Sicherheit zu bringen."

Mindestens vier Millionen haben das Land bereits verlassen, zunächst sind sie in die Nachbarstaaten geflohen. So hat der Libanon mit vier Millionen Einwohnern rund 1,2 Millionen Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen. Eine ungeheure Zahl, wenn man europäische Verhältnisse darüberlegt. Im Jänner 2015 nahm das Verhängnis hier seinen Lauf. Der Libanon machte die Grenzen für syrische Flüchtlinge dicht, wer kein Visum hat, kommt nur noch mit Schleppern durch. Die Versorgung der Neuankömmlinge ist dabei nur eines der Probleme, wenn auch ein gewichtiges, wie Sunjic betont. "Im Libanon sind 30 Prozent der Bevölkerung Flüchtlinge", berichtet sie. Der Zedernstaat, der selbst einen Bürgerkrieg hinter sich hat, befürchtet, dass das Gleichgewicht der verschiedenen Ethnien im Land aus dem Ruder gerät, schon jetzt gibt es Unruhen, ein Umsturz steht im Raum. Deshalb gibt es im Libanon keine großen Flüchtlingslager, die Schutzsuchenden sind über das Land aufgeteilt. Dazu kommt, dass der IS unter den Syrien-Flüchtlingen Kämpfer rekrutierte und der Krieg in Syrien auf den Libanon überzugreifen droht.

Auch Jordanien, wo mehr als 600.000 Syrien-Flüchtlinge ihr Dasein fristen, hat den Zustrom massiv eingeschränkt. Die Lebensbedingungen für Kriegsflüchtlinge in Jordanien sind katastrophal. Im Camp Zaatari drängen sich 80.000 Menschen in Containern, die Sonne brennt, es gibt soziale Spannungen. "Die Nachbarländer Syriens sind bis an den Rand ihrer Kapazitäten mit Flüchtlingen gefüllt. Und wir sind finanziell nicht genügend ausgestattet, den Flüchtlingen dort ein ordentliches Leben zu bieten", sagt Sunjic. Wenn die Leute, die in der Nähe der Krisengebiete sind, ordentlich versorgt würden, würde das schon einmal den Migrationsdruck mindern.

Doch sie wollen weiter. Hier, das wissen die Flüchtenden, gibt es für sie keine Zukunft, die Perspektive Europa gerät ins Blickfeld. Skrupellose Schlepper besorgen den Rest. Die Flucht ist teuer, der Ausgang ungewiss.

Erste Anlaufstelle:die Türkei

Zwei Millionen Syrer haben Zuflucht in der Türkei gefunden. Der nördliche Nachbar ist für viele die erste Anlaufstelle, es gibt an der Grenze zu Syrien zwei Dutzend Zeltlager, die von den Vereinten Nationen als vorbildlich gelobt werden. Die türkische Politik verhält sich, ganz im Gegensatz zu Europa, menschlich. Die Grenzen sind für Syrer immer offen.

In den Lagern an der Grenze leben 260.000 Menschen. Die Regierung in Ankara hat sechs Milliarden Dollar für die Flüchtlingshilfe ausgegeben. Die Syrer gelten hier offiziell als Gäste, sie dürfen sich überall im Land niederlassen und bekommen medizinische Versorgung. Allerdings gibt es wenig Jobs und die, die es gibt, sind miserabel bezahlt. Syrer werden ausgebeutet und gehasst, weil sie eine Konkurrenz am Arbeitsmarkt darstellen und die Mietpreise hochtreiben. Laut Umfrage glauben 56 Prozent der Türken, Syrer nähmen ihnen die Arbeit weg.

Viele Syrer vertrauen sich türkischen Schleppern an, um per Boot über die griechischen Inseln nach Deutschland oder Schweden zu kommen, wo man auf eine bessere Zukunft hofft. Dazu kommt, dass der Traum von der Rückkehr nach Syrien für die Flüchtlinge ausgeträumt ist. Ein Ende des Krieges ist nicht absehbar, es tobt ein Stellvertreter-Krieg, der von Russland, dem Iran und Saudi-Arabien, aber auch dem zögerlichen Handeln der USA am Leben erhalten wird. Wer keine Hoffnung auf Rückkehr sieht, macht sich auf nach Europa, auch wenn die Zukunft dort alles andere als rosig ist.

"Die Tore Europas werden sich bald schließen, besser jetzt"

Nach den Syrern sind die Afghanen die zweitgrößte Gruppe, die ihr Heil in der Flucht suchen müssen. Die aktuelle Zunahme der Flüchtlingszahlen aus Afghanistan hat vor allem mit dem Abzug der internationalen Kampftruppen aus dem Land zu tun. Seit Ende 2014 bildet die Nato nur mehr afghanische Sicherheitskräfte aus, die vollständige Verantwortung für die Sicherheit tragen nun das afghanische Militär und Polizei.

Und die Taliban und andere aufständische Gruppen im Land testen ihre Fähigkeiten täglich. Zwischen Jänner und Juni dieses Jahres sind laut einem Bericht der Mission der UNO in Afghanistan (Unama) 1592 Zivilisten getötet und 3329 verletzt worden. Das seien so viele wie nie zuvor und ein Plus von einem Prozent im Vergleich zum Vorjahr.

Der Anstieg ist unter anderem auch auf vermehrte Bodengefechte zurückzuführen. Da die afghanischen Streitkräfte nur noch über wenig Schlagkraft aus der Luft verfügen (bisher konnten die Afghanen auf rasche Luftunterstützung durch die Nato-Truppen zählen), greifen die Taliban heute auch wieder vermehrt völlig offen in Hundertschaften an und liefern sich oft tagelange Gefechte mit der afghanischen Armee. Gleichzeitig, so konstatieren Experten, erhöhen sie auch die Anzahl der Anschläge, um in den mit Kabul angelaufenen Friedensverhandlungen eine bessere Verhandlungsposition zu erreichen. Durch Tumulte an der Taliban-Spitze ist der Friedensprozess zuletzt aber ohnehin ins Stocken geraten.

Afghanische Flüchtlinge - laut UNHCR aktuell rund 2,6 Millionen an der Zahl weltweit, sind vor allem in die Nachbarländer Pakistan und Iran flohen - geben neben der unsicheren Sicherheitslage aber auch die generell schlechten Zukunftsperspektiven in ihrem Land als Grund für die Flucht an. Durch den Abzug der internationalen Truppen sind zehntausende lukrative Jobs weggefallen, die ganze Familien ernährt haben, und die Löhne insgesamt gesunken. Die im Vorjahr installierte Einheitsregierung blockiert sich selbst, Reformvorhaben versickern, es herrscht tiefgehende Korruption. Für 2015 wird von der Weltbank ein BIP-Wachstum von 3,5 Prozent prognostiziert - zu wenig, um genügend Arbeitsplätze für die sehr junge und schnell wachsende Bevölkerung zu schaffen. Es gibt immer wieder Rückwanderungswellen. Die Zahl der Rückkehrer war laut UNHCR aber noch nie so niedrig wie 2014. Nicht zuletzt geht auch in dem 31-Millionen-Land die Meinung um, "dass die Tore Europas sich bald schließen", wie es ein Flüchtling ausdrückt. "Man rechnet damit, dass es künftig schwieriger wird, und will es lieber jetzt gleich noch versuchen."

Im Irak hat der Einfall der Terrormiliz "Islamischer Staat" für massive Flüchtlingswellen gesorgt. Mittlerweile gibt es laut Internationaler Organisation für Migration (IOM) 3,2 Millionen Binnenflüchtlinge im Land. Die Bewegungsfreiheit der Iraker ist durch die andauernden Kämpfe stark eingeschränkt. Die Menschen, die im Nord- und Westirak unter dem IS leben, haben ohnehin praktisch keine Chance, von dort zu fliehen. Laut einem Einwohner von Erbil werden aktuell über den Landweg auch keine Flüchtlinge mehr in die sicherere, kurdische Region im Norden eingelassen. Die einzige Möglichkeit, dorthin zu gelangen, sei per Flugzeug aus Bagdad. Manche Iraker aber, die es in den Norden geschafft haben, versuchen über die Türkei nach Europa zu kommen. Laut UNHCR wächst die Anzahl der Iraker, die Zuflucht in einem anderen Land suchen, beträchtlich.

"Noch nie gab es so viele Flüchtlinge"

Aus Afrika wiederum kommen besonders viele Flüchtlinge aus Eritrea. Der Grund für die Flucht: Der verpflichtende Militärdienst kann sich dort in Zwangsdienst verwandeln, bei dem der Betroffene nicht weiß, wann er endet. Das Regime will das nun aber ändern.

Generell ist die globale Lage derzeit extrem instabil. "Wenn Sie sich die Landkarte anschauen, dann ist Europa von einem ,ring of fire‘ umgeben", sagt Sunjic. Überall Krisen: der Krieg in Syrien, Irak, Afghanistan. Libyen ist zusammengebrochen, Nordafrika ist instabil, im somalischen Bürgerkrieg wüten die Islamisten von Al-Shabaab, in Nigeria treibt Boko Haram seinen Terror, der Südsudan ist durch kriegerische Auseinandersetzungen zusammengebrochen. "Seit dem Zweiten Weltkrieg hatten wir noch nie so viele Krisen gleichzeitig", betont Sunjic. "Und deshalb gab es auch noch nie so viele Flüchtlinge. Und je mehr Flüchtlinge es global gibt, desto mehr Flüchtlingsbewegungen gibt es in alle möglichen Richtungen. Und damit auch nach Europa."