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Hamas steht bereit für eine neue Intifada

Von WZ-Korrespondent Andreas Schneitter

Politik

Die Anschläge in Israel und Palästina nehmen zu, Politiker raten zur Selbstbewaffnung.


Gaza. Selbst der Bürgermeister ist nun bewaffnet. Vor laufender Fernsehkamera zeigte Jerusalems Stadtoberhaupt Nir Barkat auf einem Rundgang durch das arabische Viertel Issawiya in Ostjerusalem seine Pistole und riet seinen Mitbürgern, es ihm gleichzutun. "Je mehr Leute bewaffnet unterwegs sind, desto stärker ist das Sicherheitsgefühl. Weil die Menschen wissen, dass neben der Polizei auch viele wachsame Bürger bei einer Attacke eingreifen können", sagte Barkat.

Was wie eine Kapitulation klingt, dass die Sicherheitskräfte alleine der zunehmenden Gewalt in Jerusalem nicht mehr Herr werden können, will der Bürgermeister als Beitrag zur Sicherheit verstanden wissen: "Sieht man in Israel jemanden mit einer Waffe, sorgt das für ein Gefühl der Sicherheit", so Barkat. Polizeichefs in anderen israelischen Städten stimmen Barkat zu: Der Bürger soll bewaffnet auf die Straße, um bei einer Attacke eingreifen zu können. Die Botschaft wird offenbar verstanden: Pfeffersprays, Tränengaspistolen und Elektroschocker waren in den Fachgeschäften in und um Jerusalem in den vergangenen Tagen die Verkaufsschlager. Ihr Absatz hat um mehrere hundert Prozent zugenommen.

Das Gefühl der Machtlosigkeit steigt, und die Angst vor weiteren Angriffen führt zu gewalttätigen Reaktionen. In Jerusalem marschierten rechtsextreme Aktivisten durch das muslimische Viertel und riefen "Tod den Arabern", in der Stadt Netanya lynchten jüdische Israelis beinahe drei Araber, die nur knapp und mit Polizeischutz davonkamen. Barkats Aufruf zur Selbstbewaffnung schlägt daher nicht nur Zustimmung, sondern ebenfalls Kritik entgegen. Die ehemalige Justizministerin Tzipi Livni warnte vor Selbstjustiz und Anarchie, wenn der Staat das Gewaltmonopol aufgebe.

Das Gefühl der Machtlosigkeit, das aus derartigen Vorschlägen schimmert, ist eine Folge der Gewalt, die Mitte September während der jüdischen Feiertagen begann. Sie ist nicht verebbt, sondern hat zugenommen -und sich über die Stadtgrenzen von Jerusalem ausgebreitet. Alleine an Mittwoch und Donnerstag wurden neun Angriffe auf Israelis vermeldet, meistens mit einem Messer, und meistens außerhalb von Jerusalem. In Kiryat Gat, in Tel Aviv, in Afula.

Was diese Angriffe eint, ist, dass sie nicht erkennbar zusammenhängen. Die israelischen Behörden gehen von Einzeltätern aus, die - anders als während der zweiten Intifada, als Selbstmordattentate das Land erschütterten - nicht von einer palästinensischen Organisation koordiniert sind. Israelische Medien anerkennen sogar, dass Abbas’ Sicherheitspersonal viel dafür tut, die Situation in den Palästinensergebieten unter Kontrolle zu halten.

Noch ist nicht erkennbar, wie die zunehmenden Einzelattacken verhindert werden können. Selbst die seit Sonntag andauernde Sperrung der Jerusalemer Altstadt für Palästinenser, die keinen Wohnsitz in der Heiligen Stadt haben, hat die Lage nicht beruhigt. Stattdessen verlagern sich die Auseinandersetzungen in andere Regionen: In Nazareth in Israels Norden und in Jaffa südlich von Tel Aviv, wo das Zusammenleben von Juden und Arabern sonst so reibungsarm verläuft wie sonst nirgends in Israel, kam es in den vergangenen Tagen bei arabischen Demonstrationen zu Auseinandersetzungen mit der Polizei. Und gestern Freitag griff die Gewalt auf den isolierten Gazastreifen über: Nahe der Grenzmauer zu Israel warfen rund 200 Palästinenser Steine und brennende Reifen auf Angehörige der Armee, die scharf antwortete. Vier Palästinenser starben, 21 sind verletzt. Während der Freitagsgebete benutzte der lokale Hamas-Chef Ismail Haniyeh schließlich das Wort, das in Israel noch kaum jemand benutzen will: "Die Intifada muss gestärkt und ausgedehnt werden", so Haniyeh. "Dies ist der einzige Weg, der zur Befreiung führen wird."