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Die Joghurt-Intifada

Von Thomas Seifert

Politik

Das mit israelischen Siedlungen übersäte Westjordanland bietet den Palästinensern wenig Aussicht auf eine florierende Wirtschaft.


Ramallah. Das ist sie also, die Normalität im Dauer-Ausnahmezustand, die Realität im viel zu sehr gelobten Land. Das ist das Leben hinter den Betonmauern und Wachtürmen, hinter den Checkpoints und dem Stacheldraht.

"Firing Area - Entrance forbidden" steht auf Hebräisch, Arabisch und Englisch auf einem wuchtigen Element einer T-Mauer an der Alon-Straße, rund 20 Kilometer westlich von Nablus im Nordosten des Palästinenserstaats, der in Wirklichkeit keiner ist.

Oben auf dem Hügel sind die Ruinen des Hauses von Hayel Bsharat. Der Besitzer zeigt auf die Ruine, zeigt wortlos in Richtung einer israelischen Siedlung hier, einer Militärbasis auf dem nächsten Hügel und dem als "Al-Hamra" bekannten Checkpoint im Tal. Eine palästinensische Fahne flattert trotzig im Wind. Hayel Bsharat, der früher in dem Haus, das jetzt in Ruinen liegt, wohnte, kramt einen Zettel hervor und hält ihn anklagend hin: Es ist die Abriss-Verordnung seines Hauses. Der Bulldozer kam erst vor wenigen Wochen, das Haus habe die Sicht zwischen einer Armeebasis und dem Checkpoint an der Straße versperrt, das sei die inoffizielle Erklärung für den Abriss gewesen.

Nach dem Oslo-Abkommen von 199, das erst vor wenigen Wochen von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas in seiner Rede vor der UN-Generalsversammlung in Frage gestellt wurde, ist vereinbart, dass für Bauten in der sogenannten Zone C (60 Prozent des Landes sind so klassifiziert), wo Bsharats Haus stand, eine Baugenehmigung der israelischen Zivilverwaltung notwendig ist. Da solche Genehmigungen aber selten erteilt werden, bauen die Palästinenser oft ohne Erlaubnis, nur um dann mit ansehen zu müssen, wie die Armee die Bauten wieder zerstört. 2014 wurden nach UN-Angaben 601 Palästinensische Bauten abgerissen, 1215 Menschen verloren ihr Dach über dem Kopf. Das sei die höchste Zahl von Abrissen seit dem Jahr 2008 gewesen, stellen die Vereinten Nationen fest.

Der zuständige Bürgermeister Azem Haj Mohammed erzählt, viele vor allem junge Menschen würden die Region verlassen, da dort keine neuen Bauten errichtet werden können, keine neue Infrastruktur. Doch Hayel Bsharat will nicht aufgeben: "Das hier ist meine Intifada, mein Aufstand gegen die israelische Besatzung." Die letzte Welle der Gewalt währte vom Jahr 2000, als der damalige israelische Premierminister Ariel Sharon den Tempelberg besuchte, bis zum Jahr 2005. Das Resultat: Israels Regierung ist von Wahl zu Wahl nach rechts gerückt und ein Palästinenserstaat liegt in weiter Ferne. Die relative Stabilität danach hat dem Westjordanland allerdings einen wirtschaftlichen Aufschwung beschert, der Ökonom Salam Fayyad schaffte es vom Jahr 2007 zuerst als palästinensischer Finanzminister, bis 2013 dann als Premier, die lokale Wirtschaft anzukurbeln. Freilich: Das Wachstum ist kreditfinanziert und nicht nachhaltig, es gibt kaum Exporte und nun stagniert die Wirtschaft oder schrumpft sogar. Die Stimmung ist gereizt, erst recht, da es seit längerem auf der politischen Ebene keine Fortschritte mehr gibt. Der palästinensische Premier Abbas hat keine Gesprächsbasis mit seinem israelischen Amtskollegen Benjamin Netanjahu, die Pax Americana ist kollabiert und der Bürgerkrieg in Syrien ist an die Grenzen Israels und Palästinas herangerückt.

20 tote Palästinenser und4 tote Israelis in 11 Tagen

Zuletzt ist die Gewalt wieder aufgeflammt, erst am gestrigen Sonntag haben israelische Sicherheitskräfte einen 13-jährigen Palästinenser erschossen, am Samstag wurden fünf Palästinenser getötet, einige der Palästinenser hatten zuvor orthodoxe Juden angegriffen. Damit sind allein in den vergangenen elf Tagen 20 Palästinenser und vier Israelis ums Leben gekommen. Immer wieder hört man Stimmen, dass eine neue Intifada, ein neuer Palästinenseraufstand bevorstehe. Vor dem Hintergrund des ohnehin bereits bestehenden Chaos in der Region kein sehr beruhigender Gedanke.

Mit Schafzucht und Bewässerung zum Frieden

Vielleicht könnte aber eine Art Joghurt-Intifada einem Frieden zwischen Palästinensern und Israelis den Weg ebnen. Der palästinensischen Bevölkerung soll mit Landwirtschaftsprojekten wie Joghurt-Produktion ein Auskommen ermöglicht werden, wirtschaftliche Entwicklung soll das Leben der Menschen verbessern, denn wer nichts mehr zu verlieren hat, dem ist auch egal, ob es Frieden gibt oder nicht. Die österreichische Entwicklungsagentur ADA und die Hilfsorganisation Care setzen daher darauf, den Menschen in Palästina beim Aufbau einer wirtschaftlichen Zukunft zur Seite zu stehen.

"Gib mir statt Fischen zum Essen lieber eine Angel, damit ich selbst fischen kann" steht auf einem riesigen Plakat, das an der Wand des Besprechungsraums der Landwirtschaftskooperative Tubas hängt. Dort treffen sich die Entwicklungshelfer und Experten regelmäßig mit Bauern und Schafhirten. Österreich und Care unterstützen den Agronomen Fawaz Abu Dawas finanziell, der den Schafhirten hier im Norden des Westjordanlands Verbesserungen bei der Schafzucht näherbringt, der ihnen zeigt, wie man mit einfachen Mitteln, etwa einem etwas anderen Futter, den Ertrag um 20 Prozent steigern und gleichzeitig Kosten sparen kann. Doch auch Abu Dawas klagt über die Schwierigkeiten, in der Zone C Landwirtschaft zu betreiben. "Die Israelis genehmigen den Bau von Ställen oder auch nur Wassertanks in dieser Zone kaum jemals", klagt er. Aus diesem Grund seien die Möglichkeiten beschränkt. Die Entwicklungshilfeagentur und Care helfen auch mit, die Produkte dann auf den Markt zu bringen. Etwa in Jenin, im Norden des Westjordanlands, wo Tajreed gemeinsam mit Partnern die Firma "Al Thimar" gegründet hat. Dort werden die von den Kooperativen geernteten Oliven und das Joghurt der Hirten weiterverarbeitet, in Gläser gefüllt und in Kartons gepackt. Die Frauen sind stolz auf ihre kleine Firma: Anfangs hat ihnen niemand zugetraut, dass sie als Unternehmerinnen erfolgreich sein könnten. Sie haben ihre eigenen Marken entwickelt, Labels für die Joghurt-Gläser in Auftrag gegeben. Seit sie über den lokalen Markt in Jenin hinaus erfolgreich ist, träumt Tajreed sogar vom internationalen Export.

Für Nivine Sandouka, bei Care für Frauenprojekte zuständig, sind es diese kleinen Erfolge, die die palästinensische Gesellschaft weiterbringen. Denn Frauen würden sich für einen zweckmäßigen Einsatz der Geldmittel starkmachen: etwa im 16.000-Einwohner Städtchen Beit Fajjar, wo die Frauengruppe Sanad einen Kindergarten eingerichtet hat. Durch den Kindergarten bekommen mehr Frauen die Möglichkeit, einer Erwerbsarbeit nachzugehen, das Projekt hat die Frauen des Orts zusammengeschweißt. Die Frauen begannen, Fragen an die mächtigen Männer von Beit Fajjar zu stellen. Warum man zum Beispiel so viel Geld für die eine luxuriöse neue Moschee ausgibt, wo es doch ohnehin bereits sieben Moscheen in Beit Fajjar gibt? Und warum gleichzeitig das Geld für den Kindergarten und die Schulen knapp ist? Mervat, die Vorsitzende der Frauengruppe, erzählt aber auch, dass in der Gemeinde "einiges in Bewegung gekommen" sei. Die Frauen hätten heute mehr Selbstbewusstsein und auch die Männer hätten ihre anfängliche Skepsis abgelegt und würden nun ihre Frauen unterstützen.

Vielleicht schaffen diese palästinensischen Frauen eines Tages, was ihren Männern nicht gelingt: Frieden im Land zu schaffen.

Die palästinensischen Autonomiegebiete sind ein fragmentiertes Siedlungsgebiet der Palästinenser im Gazastreifen und im Westjordanland. Das Westjordanland wurde als Ergebnis des Oslo-Abkommens von 1995 in drei Zonen (A: 18 Prozent, B: 20 Prozent und C: 62 Prozent der Fläche) eingeteilt, in denen die Autonomiebehörde und das israelische Militär jeweils andere Befugnisse haben. Es befinden sich aber bis heute überall im Westjordanland israelische Siedlungen. Im Oslo-Abkommen ist vorgesehen, den größten Teil der Zone C schrittweise in die palästinensische Autonomie zu überführen. Eine Einigung über den endgültigen Status und die Gebietszuordnung wurde aber bis dato nicht erzielt. Weitgehend innerhalb der Zone C baut Israel eine befestigte Abgrenzung.

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