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"Das Imperium muss auseinanderbrechen"

Von Thomas Seifert

Politik

Der chinesische Autor und Dissident Liao Yiwu über Ai Weiwei, das Massaker von Tiananmen, Demokratie und Gerechtigkeit.


"Wiener Zeitung": Sie wollen, dass das "chinesische Imperium", wie Sie es nennen, zerbricht. Ist das nicht eine Horrorvision? Würde so ein Kollaps nicht unweigerlich zu Bürgerkrieg und direkt in eine Katastrophe führen?

Liao Yiwu: Das ist gar keine Horrorvision. Dieses Imperium muss auseinanderbrechen. Das wäre auch nichts Ungewöhnliches, in den vergangenen 2000 Jahren war China manchmal vereint und manchmal nicht. Das heutige China, das ist roher, ungezügelter Kapitalismus gepaart mit einer hundertprozentigen Diktatur. Am Westen interessiert die Machthaber nur Kapital, was der Westen sonst noch zu bieten hätte, etwa Werte, etwa Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte, etwa Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, das interessiert niemand. Niemand im Land redet über Moral. Das ganze Gerede über Sozialismus oder Kommunismus - das ist doch eine einzige Lüge. Im Westen ist der Kapitalismus wenigstens von einem einigermaßen funktionierenden Rechtsstaat eingehegt, die freie Presse stellt manchmal, wenn auch nur da und dort die Systemfrage. Das alles gibt es in China nicht. China ist wohl auch ist zu groß, zu gigantisch. Wenn da anstatt des großen und mächtigen China ein Haufen kleinerer unabhängiger Länder wäre, dann wären die Probleme leichter lösbar.

Die Welt hat sich gut mit dem heutigen China arrangiert. Viele westliche Politiker sind froh über die Stabilität in China und viele westliche Unternehmer sind doch ganz zufrieden mit der Tatsache, dass es in China keine freien Gewerkschaften gibt und die chinesische KP für Ordnung sorgt.

Wenn die KP weiter so gut für Ordnung sorgt, wird China in 20 Jahren der größte Müllplatz der Welt sein, wo niemand mehr die Luft atmen kann. Wenn die Umwelt in China kollabiert, dann gibt es eine Flüchtlingswelle, gegen die die derzeitige aus Syrien oder Afrika gar nichts ist. China ist ja bereits heute das Land mit den meisten Emigranten. Jene, die Geld haben, wollen in den Westen, weil es dort Freiheit gibt, saubere Luft und Lebensqualität.

Vertreter Chinas kritisieren, der Westen habe einen eindimensionalen Begriff von Menschenrechten. 300 Millionen Menschen seien aus der Armut geholt worden, betonen sie und das müsse der Westen anerkennen.

Ich kenne diese Vertreter Chinas, die so argumentieren. Man nennt sie luo guan, nackte Beamte. Warum nackt, werden Sie jetzt fragen: Weil ihre Familienangehörigen längst im Westen sind. Solche Leute haben längst ihre Zukunft im Westen aufgebaut. Was sie in China hinterlassen, ist verseuchter Boden, verschmutzte Flüsse und vergiftete Lebensmittel.

Sie wurden nach dem Massaker am Tiananmen-Platz im Juni 1989 verhaftet und saßen dann vier Jahre im Gefängnis. Welche Bedeutung hat dieses Ereignis heute noch für Sie?

Es ging um die Forderung nach Demokratie und politischen Reformen. Das war damals eine wirkliche Chance: Sogar der damalige Parteichef Zhao Ziyang wollte weitreichende Reformen. Doch Deng Xiaoping hat sich entschieden, Blut zu vergießen. Mit mir gibt es keine Freiheit, aber als Trostpreis bekommt ihr den Kapitalismus. Der Westen dachte dann, na gut, Wandel durch Handel, aber das war ein Irrtum. Worauf ich bis heute stolz bin: dass wir Chinesen damals in diesem Frühling 1989 aufgestanden sind. An meinem Stolz kann auch die Tragödie vom 4. Juni 1989 nichts ändern. Denn dieser 4. Juni hat den Weg für die Demokratie in Polen, Ungarn und für die Wiedervereinigung Deutschlands geebnet.

In Ihren Büchern schreiben Sie über die entrechteten Chinesen, über die Deklassierten, über den Bodensatz der Gesellschaft.

Das ist der Teil der chinesischen Gesellschaft, der für die meisten Besucher völlig unsichtbar bleibt. Die meisten Menschen aus dem Westen lassen sich von den Glitzermetropolen blenden. Das China der Armen, der Entrechteten, dieses China bleibt im Dunkeln.

In Ihrem aktuellsten Buch "Gott ist Rot" geht es um verfolgte Christen in China.

Für dieses Buch bin ich in die entlegensten Bergregionen gereist, wo ich Anhänger des Christentums getroffen habe. Vor 200 Jahren waren in dieser Gegend bereits Missionare aktiv und sie haben dort den Samen des Christentums gelegt, haben von Freiheit und Brüderlichkeit gepredigt. Der Westen hat also vor 200 Jahren wertvolle Dinge nach China exportiert - heute bringt der Westen den Konsumwahn ins Land. Der Westen sollte sich Gedanken machen und die Frage stellen: Was will ich ins Land bringen?

Sie saßen unlängst mit dem chinesischen Dissidenten Ai Weiwei in Berlin auf der Bühne. Sie wollen nichts weniger als eine Revolte, Ai Weiwei hat sich zuletzt zahmer gegeben.

Ai Weiwei ist der bedeutendste Gegenwartskünstler Chinas. Aber er - und auch der im Dezember 2009 zu elf Jahren Haft verurteilte Literaturnobelpreisträger Liu Xiaobo - hegen die Illusion, dass China irgendwann, irgendwie auf einen guten Weg gebracht werden kann. Solchen Illusionen gebe ich mich nicht hin.

Sie sind aus China geflüchtet. Warum?

Als 2011 der arabische Frühling in einigen Ländern des Nahen Ostens und Nordafrikas ins Land zog, bekam die chinesische Führung Panik, überall wurden Menschen verhaften, man hat ihnen mitten auf der Straße einen Sack über den Kopf gezogen und sie sind verschwunden. Zu der Zeit haben sie auch Ai Weiwei verhaftet und man wusste 81 Tage nicht, wo er war. Mir hat jemand gesagt, wenn sie mich schnappen, dann muss ich für mindestens 10 Jahre ins Gefängnis. Seither habe ich nur mehr an Flucht gedacht. Nach China kann ich derzeit nicht zurück, das ist völlig ausgeschlossen.

Zur Person
Liao Yiwu
(geb. am 4.08.1958 in Yanting, Provinz Sichuan) ist ein chinesischer Schriftsteller, Dichter und Dissident. International wurde er durch sein Buch "Fräulein Hallo und der Bauernkaiser: Chinas Gesellschaft von unten" bekannt. Seine Bücher sind in der Volksrepublik China verboten, Liao Yiwu flüchtete im Sommer 2011 über Vietnam nach Deutschland, wo er heute lebt.

Liao Yiwu wurde nach dem Tiananmen-Massaker im Jahr 1989 verhaftet und saß vier Jahre im Gefängnis. Nach seiner Haft kämpfe er sich am untersten Rand der Gesellschaft durch, in dieser Zeit begann er, Gespräche mit sozial Ausgestoßenen aufzuzeichnen und machte daraus ein Buch. Dieses Werk erschien im Jahr 2001 und wurde von der liberalen Zeitung "Südliches Wochenende" gelobt, wurde aber in China verboten.

Liao Yiwu ist auf Einladung des Literaturfestivals "Erich-Fried-Tage" auf der Bühne des Literaturhaus Wien.