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Schicksalstage für Syrien

Von Thomas Seifert

Politik

Die Hintergründe des Syrien-Konflikts und der lange, steinige Weg zu einer Friedenslösung, der in Wien verhandelt wird.


Wien. Wer das Heute verstehen will, muss wissen, was gestern war. Oder vorgestern. Genauer: Was war am 16. Mai 1916? Der Tag der Unterzeichnung des Sykes-Picot-Abkommens. Noch vor dem Ende des Ersten Weltkriegs begannen der Brite Mark Sykes und der Franzose François Georges-Picot im Auftrag ihrer Regierungen mit der Filetierung des Osmanischen Reiches. "Im Sykes-Picot-Abkommen teilten sie das Erbe der Osmanen mit einer diagonalen, in den Sand gezogenen Linie, die sich von der Mittelmeerküste bis zu den Bergen an der persischen Grenze zog. Das Territorium nördlich von dieser willkürlich gezogenen Linie sollte an Frankreich gehen, das Land südlich davon an Großbritannien", schreibt der am Kings College in London lehrende Historiker James Barr in seinem Buch: "A Line in the Sand - The Anglo-French Struggle for the Middle East 1914-1918".

Die Linien, die damals mit Tinte auf einer Karte und ohne Rücksicht auf die ethnische Zusammensetzung in den betroffenen Regionen gezogen wurden, werden bis heute mit Blut neu gezeichnet: Irak und Syrien existieren de facto als Nationen nicht mehr, sondern sind zersplittert, der Libanon und Jordanien sind äußerst fragil, Ägypten ist nach der Arabellion am Tahrir-Platz und der Konterrevolution des Ancien Régime geschwächt. Der Iran ist nach dem erfolgreichen Ende der Atom-Verhandlungen in die Weltgemeinschaft zurückgekehrt und konkurriert mit der Türkei und Saudi-Arabien um die Vorherrschaft in der Region.

Doch wie hat der Konflikt in Syrien eigentlich begonnen? Der Auslöser waren friedliche Proteste gegen das Regime am 15. März 2011 in der Grenzstadt zu Jordanien, Daraa, inspiriert vom Arabischen Frühling, der bereits Tunesien, Ägypten und Libyen erfasst hatte. Aber zur Erklärung der Hintergründe des Konflikts ist die Fokussierung auf die Straßenproteste und die Repression danach zu wenig.

Krisen in Syriens Städtenals Hintergrund der Revolte

Daraa stand - wie viele syrische Städte - unter Stress: Missmanagement in der Landwirtschaft und eine schwere Dürre trieben eine ländliche Unterschicht, deren Grund und Boden trockengefallen war, zu Hunderttausenden in die Städte. Die deklassierten Massen fanden in den Vorstädten kaum Arbeit und in den Städten stand die Wasserversorgung ebenfalls bereits auf der Kippe. Doch nicht nur die Vorstädte von Daraa waren am Limit: 1,5 Millionen irakische Flüchtlinge, von denen sich viele im Distrikt Sayyida Zeinab im Süden von Damaskus niedergelassen hatten, machten die Wasserversorgung nicht einfacher. Die Wissenschafterin Suzanne Saleeby schrieb in einem Artikel für das Online-Magazin des Arab Studies Institute "Jadaliyya", dass das Versagen des Regimes, die Folgen der Dürre zu managen, neben der brutalen Repression der wichtigste Grund für die Massenmobilisierung des Protests gegen das Assad-Regime war. "Syrische Städte waren jene Kreuzungen, wo die Unzufriedenheit der Arbeitsmigranten vom Land sich mit jener der entrechteten Städter traf und die Frage nach der Natur und Verteilung von Macht aufwarf", schreibt Saleeby.

Wie schon beim Massaker von Hama, als Bashar al-Assads Vater Hafez al-Assad einen Aufstand der Muslimbrüder im Jahr 1982 blutig niederschlagen ließ, ging das Regime mit äußerster Brutalität gegen Demonstranten vor, Pro-Regime-Mililizen - genannt Shabiha - verübten Massaker in verschiedenen Städten, um die Protestbewegung im Keim zu ersticken. Doch die Brutalität des Regimes heizte die Proteste nur weiter an. Im Juli 2011 rebellierten in dem 21-Millionen-Einwohner-Land Syrien in Städten wie Daraa, Damaskus, Aleppo, Idlib, Homs und Hama - wo insgesamt rund 40 Prozent der Bevölkerung Syriens leben - die Massen. Die Demonstranten begannen sich zu bewaffnen, Guerilla-Gruppen zu bilden, die Regierung verlor die Kontrolle über die Peripherie vieler Vorstädte und über weite Teile der ländlichen Regionen. Die Demokratiebewegung wurde bald von den bewaffneten Dschihadistengruppen marginalisiert.

Die Fronten wurden immer klarer: Die Angehörigen der religiösen Minderheiten, die rund 15 Prozent der Bevölkerung ausmachen - vor allem Alawiten (Assad gehört zu dieser Religionsgruppe), Schiiten und Christen -, stellten sich hinter das Regime, die Gegner des Regimes waren meist Sunniten. Doch eine wichtige Frontlinie verläuft bis heute zwischen den Pro-Regime-Bewohnern der größeren Städte einerseits und den Bewohnern der Armutszonen der Vorstädte, der Kleinstädte und Dörfer des Hinterlands, die sich vom Regime vernachlässigt fühlten. "Syrien ist ein Krieg der Peripherie und der Marginalisierten gegen das Zentrum", schreibt der Strategie-Experte und frühere Anti-Terror-Koordinator im US-Außenministerium David Kilcullen in seinem Buch "Out of the Mountains".

GeopolitischesSchachbrett Syrien

Syrien ist zum Schachbrett, auf dem regionale Mächte sowie die USA und Russland ihre Figuren hin und her schieben, geworden, zum Schauplatz des bislang gefährlichsten Stellvertreterkrieges des noch jungen 21. Jahrhunderts.

Bürgerkriege wie der in Syrien erschüttern meist die gesamte regionale Ordnung. Millionen von Flüchtlingen setzten sich in Bewegung, die Terrorgruppe IS metastasierte zu einem Krebsgeschwür, das neben Syrien auch den Irak befallen hat, und die Bevölkerung in der Nachbarschaft des Krisenherds wurde radikalisiert.

Die syrische Opposition, deren ultimatives Ziel der Sturz des Baath-Regimes von Bashar al-Assad ist, erhält von Ländern wie der Türkei, Saudi-Arabien, Katar und den USA materielle und logistische Unterstützung. Die USA haben aber im Gegensatz zu ihren Verbündeten in der Region Skrupel, Organisationen wie Jabhat al-Nusra oder den Islamischen Staat (IS), der von den Arabern Daish genannt wird, zu unterstützen. Im Gegenteil: US-Kampfflugzeuge bombardieren Stellungen des IS, während die USA die Freie Syrische Armee (FSA), die ebenfalls gegen Assad kämpft, unterstützen. FSA-Stellungen werden wiederum von russischen Luftstreitkräften bombardiert. Kurzum: ein schreckliches Chaos.

All das spielt sich vor dem Hintergrund des Endes der in der Region alles andere als friedlichen Pax Americana ab, die USA fanden zur Islamischen Revolution im Jahr 1979 in der Region nur Verbündete vor (bis auf Hafez al-Assads Syrien, das mit der Sowjetunion verbündet war). Mit Ayatollah Ruhollah Khomeini als starken Mann im Iran sah sich Washington plötzlich einer antagonistischen Macht in der Region gegenüber, die die Supermacht und die arabische Welt herausforderte. Zwei Überfälle von Saddams Irak auf den Iran 1980 und Kuwait 1990, zwei US-Kriege gegen Saddams Irak 1991 und 2003, und Bürgerkriege im Irak und Syrien später, steht man nun in Wien am Beginn eines Versuchs, den Nahen Osten neu zu ordnen.

Dieser nimmt für die USA an Bedeutung ab, wie Steven Simon und Jonathan Stevenson in ihrem Essay "The End of Pax Americana" in der November-Ausgabe des einflussreichsten US-Außenpolitik-Fachmagazins "Foreign Affairs" argumentieren. Die USA werden Saudi-Arabien schon bald als wichtigste Öl-exportierende Nation überholen und nicht mehr länger auf Ölimporte aus dem Nahen Osten angewiesen sein. Das Atomabkommen mit dem Iran hat das Potenzial, die geopolitische Lage völlig zu verändern. Denn das Tauwetter zwischen Teheran und Washington zeigt bereits erste Resultate: Nur so ist es möglich geworden, dass der iranische Außenminister Mohammad Javad Zarif an der Wiener Syrien-Konferenz teilnehmen kann und damit der neben Russland wichtigste Verbündete des syrischen Präsidenten Bashar al-Assad mit am Verhandlungstisch sitzt. Jene Diplomaten und Experten, die stets darauf gehofft haben, dass ein erfolgreicher Abschluss des Atomabkommens die Tür zu einem Grand Bargain, zu einem Deal mit dem Iran über die wichtigsten strittigen Fragen öffnen könnte, sehen ihre große Stunde gekommen. Ohne die Mitwirkung des Iran ist eine Friedenslösung für Syrien außer Reichweite, das wissen die Strategen in Washington. Präsident Barack Obama, der noch 2012 und 2013 Optionen wie eine Pufferzone, begrenzte Luftangriffe gegen Regime-Ziele oder eine Flugverbotszone erwogen hatte, wollte die Beziehungen zum Iran nicht aufs Spiel setzen, erst recht nicht, als der Iran den Einsatz erhöht hatte, indem Teheran Revolutionsgarden zur Unterstützung des Assad-Regimes nach Syrien geschickt hatte.

Moskau und Teheran sind aber ihrerseits zum Schluss gekommen, dass das von ihnen unterstützte Assad-Regime seine Herrschaft nie wieder über ganz Syrien wird ausdehnen können. Die Europäische Union, die unter der Flüchtlingswelle aus Syrien leidet, drängt ebenfalls auf eine Verhandlungslösung. Die Voraussetzungen sind also günstig, vor allem, wenn es gelingt, Vertreter des Regimes und der Opposition in die Gespräche einzubinden.

Aber wie immer bei derartigen Verhandlungen steckt der Teufel im Detail: Welche Rolle soll Assad in Syrien hinkünftig spielen? Wer soll einer Übergangsregierung angehören? Wie können die Dschihadisten von der Macht ferngehalten werden? Soll Syrien zerstückelt werden? Es ist noch ein weiter Weg.