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Friedenslager als schlafende Schönheit

Von WZ-Korrespondent Andreas Schneitter

Politik

Vor 20 Jahren wurde Israels damaliger Premier Yitzhak Rabin ermordet. Der Friedensprozess mit den Palästinensern scheint gescheitert. Doch die politischen Blöcke haben sich seit 1995 kaum verändert, meint ein Rabin-Vertrauter.


Tel Aviv. Hunderttausend Personen versammeln sich, sogar Bill Clinton ist eigens angereist. Stille herrscht, als die Menge zu einer Schweigeminute aufgerufen wird - Schweigen in Gedenken an Yitzhak Rabin, aber auch ein erstarrtes Schweigen angesichts der Szenen, die über die großen Bildschirme flimmern. Jene Szenen, die den Weg für den Mord an dem damaligen israelischen Premier vor 20 Jahren geebnet und zum Ende des Friedensprozesses geführt hatten: die wütenden Märsche der Rechten gegen "Oslo", das israelisch-palästinensische Abkommen. Die hasserfüllten Reden gegen die damalige Linkskoalition, die nur dank den Stimmen der arabischen Parlamentarier das Abkommen hauchdünn durch die Knesset brachte. Die Hetzbilder und Karikaturen, die dem Attentat vorangegangen waren: Rabin in SS-Uniform, Rabin mit Arafat-Schal, ein Sarg mit Rabins Namen, der bei einem riesigen Demonstrationszug der israelischen Rechten vorangetragen wird. Vergangenen Samstag waren diese Szenen allgegenwärtig bei den Hunderttausend in Tel Aviv. Sie versammelten sich auf jenem Platz, an am Yitzhak Rabin am 4. November 1995 von dem nationalreligiösen jüdischen Fanatiker Yigal Amir erschossen wurde. Seitdem trägt der Platz den Namen Rabins.

Die alte Elite

Die Hassbotschaften von Rabins damaligen Feinden sind nur wenige vieler Hinterlassenschaften seiner Ermordung, die noch heute nachwirken: Selbst die politischen Spitzen des Landes sind nicht unberührbar. Die andere ist die unerfüllte Hoffnung auf Frieden. Der frühere US-Präsident Bill Clinton, vor zwanzig Jahren Moderator der Oslo-Abkommen, erinnerte daran. "Rabin gab sein Leben, um Euch die Chance auf Frieden zu geben", sagte er vor der Menge. "Ob Ihr entscheidet, dass er Recht hatte und die Risiken eines Friedens weniger schwer wiegen, als ihm den Rücken zu kehren, liegt an Euch. Ich bete, dass Ihr die richtige Entscheidung treffen werdet", sagte er in Tel Aviv.

Die Hoffnung auf Frieden ist klein geworden in den Jahren seit Rabins Tod, erst recht in den vergangenen Wochen, als sich von Jerusalem aus eine neue Gewaltwelle erhoben hat, die bis heute nicht verebbt ist. Auf palästinensischer Seite nimmt die Verzweiflung über den Stillstand der politischen Lage überhand, umgekehrt ist das Misstrauen der jüdischen Israelis gegenüber den arabischen Nachbarn durch die anhaltenden Messerattacken weiter gewachsen.

Das Friedenscamp, vor 20 Jahren eine Massenbewegung, ist kontinuierlich geschrumpft. Wenige Tage vor der Gedenkfeier für Rabin rief "Peace Now", einst Taktgeber der Friedensbewegung, auf demselben Platz in Tel Aviv zu einer Demonstration für Koexistenz auf. Dreitausend, vielleicht viertausend Menschen folgten dem Ruf, zu großen Teilen Vertreter der urbanen, säkularen Mittelschicht mit europäischer Herkunft. Eine Gruppe, die demographisch auf dem absteigenden Ast ist. Ihr Pessimismus war greifbar: "Wir demonstrieren weiter und erheben unsere Stimmen, aber es hört kaum mehr jemand zu", sagte eine Lehrerin, Mitte fünfzig, die schon 1995 auf dem Rabin-Platz stand. Sie unterrichtet Kunst an einer Schule in Jerusalem, normalerweise gemischte Klassen, Juden wie Araber. Das neue Schuljahr hat bereits begonnen, aber die Klassenzimmer seien nahezu leer: "Die arabischen Eltern trauen sich nicht, ihre Kinder auf die Straße zu schicken. Und die jüdischen Eltern fürchten sich, dass einer der arabischen Teenager zur Gewalt greifen könnte. Es ist deprimierend." An Demonstrationen will die Lehrerin weiterhin teilnehmen. Und zwar bewusst mit der israelischen Flagge im Arm, um zu zeigen, dass Patriotismus kein Vorrecht der Rechten ist.

Yair Oppenheimer, Direktor der NGO "Peace Now", kennt die Stimmen und Zahlen. Wie groß die Bewegung noch sei, lässt er unbeantwortet. "Auf Facebook haben wir 70.000 Anhänger. Für eine zivilgesellschaftliche Organisation ist das viel." Aber er sagt auch: "Wir haben Probleme, Menschen außerhalb der säkularen Bevölkerung von Tel Aviv anzusprechen. Daran müssen wir arbeiten - und den Menschen klarmachen, dass Zionismus und die Zweistaatenlösung keine Widersprüche sind."

Oppenheimer sagt, er habe in 13 Jahren, seit er "Peace Now" anführt, erlebt, wie Israels Gesellschaft nach rechts gerückt sei. "Es war einfacher, als Rabin noch lebte. Die Menschen haben an Frieden geglaubt. Ob es mit ihm je eine zweite Intifada, den unilateralen Rückzug aus Gaza und die Hamas-Herrschaft gegeben hätte - wir wissen es nicht. Rabin hat verstanden, dass es zwei Staaten für zwei Völker braucht, und er ist dafür gegen alle Widerstände eingestanden. Das ist die Essenz der Osloer Abkommen."

Yossi Beilin hat eine nuanciertere Sicht auf Rabins Hinterlassenschaft. Beilin diente unter Rabin als stellvertretender Außenminister und gilt als einer der zentralen Architekten der Osloer Verträge. Aber "Oslo" sei nie jener vertane Friedensschluss gewesen, als den die Welt das Abkommen sehen wollte und noch immer sieht.

Körperschaft, nicht Staat

"Rabin hat nie von einem palästinensischen Staat gesprochen" sagt Beilin. "Rabin sprach, noch einen Monat vor seinem Tod, von einer palästinensischen Körperschaft, einem Gebilde. Was er sich konkret vorstellte, haben wir nicht mehr erfahren." Die Chance auf ein Abkommen mit den Palästinensern habe sich aus glücklichen Umständen ergeben: "Yassir Arafat war geschwächt, weil er im ersten Golfkrieg Saddam Hussein unterstützt hatte, und brauchte eine neue Strategie. Und in den USA war mit Bill Clinton ein neuer Präsident im Amt, der außenpolitisch einen Akzent setzen wollte. Rabin hat die Gelegenheit erkannt." Kein israelischer Staatsmann habe seither eine ähnliche Hartnäckigkeit gegen alle Widerstände bewiesen, bilanziert Beilin. "Rabin hat massiv in die Infrastruktur der arabischen Gemeinden in Israel investiert, er schloss den Friedensvertrag mit dem Königreich Jordanien, und er schlug einen Weg mit den Palästinensern ein, zu dem es noch heute keine Alternative gibt. Seine erste Amtszeit als Regierungschef in den 70er Jahren war ein Desaster - aber bei seiner zweiten Chance wurde er zu einem großen Staatsmann." Das lasse ihn bis heute vermissen. Die Hoffnung auf Frieden sei hingegen nicht gestorben: Beilin zitiert eine Umfrage der Gratiszeitung "Israel Hayom", laut der sich Zustimmung und Ablehnung zu den Osloer Verträgen weiterhin knapp die Waage halten. "Die politischen Blöcke haben sich seit 1995 kaum verändert. Das Friedenslager ist eine schlafende Schönheit ohne politische Führung, aber es ist nicht verschwunden."

Der andere Rabin

Was von Rain bleibt, hängt davon ab, wen man fragt. An der Gedenkfeier im Zentrum von Tel Aviv fand sich unter den Hunderttausend auch eine Gruppe der nationalreligiösen Jugendbewegung Bnei Akiva ein - Vertreter jener Ideologie, die territoriale Kompromisse mit den Palästinensern strikt ablehnen. Sie sind zu jung, um die Ermordung Rabins erlebt zu haben, und sie jubeln nicht, als Clinton vom Frieden sprach. Ihr Gedenken galt jenem Armeechef, unter dessen Führung die israelischen Streitkräfte 1967 die Jerusalemer Altstadt und das Westjordanland erobert hatten, wo die biblischen Stätten des Judentums liegen. Jener Armeechef, der 1974 Regierungschef wurde und, wenn auch zähneknirschend, einigen der ersten jüdischen Siedlungen im Westjordanland die Bewilligung erteilte. Sein Name: Yitzhak Rabin.