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Fingerabdrücke, Folter und tiefer Frust

Von den Korrespondenten Tobias Käufer und Hanna Silbermayr

Politik

Am Sonntag wird in Venezuela ein neues Parlament gewählt.


Caracas. Fünf geschlagene Stunden wartet Josefina Cruz in der Schlange, dann gibt sie der grimmig dreinschauenden Kassiererin ihre Ausweisnummer und beweist ihre Identität mit den eigenen Fingerabdrücken. Der karge Lohn der Mühe: Zwei Packungen Kaffee, zwei Liter Milch, zwei Kilo Maismehl und zwei Packungen Zucker. Mehr darf sie nicht nach Hause mitnehmen, denn Lebensmittel sind rationiert.

Wer den Absturz von Venezuelas Sozialisten in den Umfragen verstehen will, der muss an einem ganz normalen Tag in Caracas, Maracaibo oder San Cristobal den Menschen in den endlosen Schlangen einfach nur zu hören. "Das mache ich nicht mehr mit", ruft Cruz wütend, und spontan klatschen einige Beifall. So wie vor dem staatlichen Supermarkt "Abasto Bicentenario", vor dem schwer bewaffnete Sicherheitskräfte die Waren beschützen. Nur hier gibt es - überhauptaußer auf dem teuren Schmarzmarkt - noch Produkte des Alltagsbedarfs. Die immens hohe Inflation hat die venezolanische Privatwirtschaft zerstört. Trotzdem macht der sozialistische Präsident Nicolas Maduro die Unternehmer für die katastrophale Versorgungslage im Land verantwortlich. Er nennt sie in seiner eigenen TV-Show "Parasiten" und "Teufel", die ihre gerechte Strafe erhalten werden.

Lückenfüller mit Symbolkraft

Die Krise bekämpfen die regierenden Sozialisten, die unter dem vor zwei Jahren verstorbenen und populären Revolutionsführer Hugo Chavez noch unschlagbar schienen, auf ihre ganz eigene Art. Leere Regale sind verboten. Stattdessen sind die Ladenbetreiber gezwungen, die Leerstände mit Produkten aufzufüllen, die gerade vorhanden sind. So kommt es vor, dass in der Abteilung für Milchpulver hunderte Flaschen Coca Cola die Regale auffüllen oder unzählige Zahnpasta-Tuben als Lückenfüller dienen.

Der rapide Ölpreisverfall wirkte in der Misswirtschaft als Brandbeschleuniger. Jahrelang konnte das ölreichste Land der Welt aus dem Vollen schöpfen, die fehlenden Kapazitäten glichen die Sozialisten einfach mit teuren Lebensmittelimporten aus. Die historische Chance, mit den Ölmilliarden die eigene Wirtschaft zu modernisieren und alternative Wirtschaftszweige aufzubauen, die das Land unabhängig vom Ölpreis gemacht hätten, verpasste Hugo Chavez. Jetzt versuchen seine Nachfolger, das Versagen in der Wirtschaftspolitik mit den Taschenspielertricks von aufgefüllten Regalen zu überspielen. Das kostet Vertrauen, was sich auch an den Wahlurnen niederschlagen dürfte. Hasler Iglesias ist Vorsitzender eines Studentenverbandes der Zentraluniversität von Venezuela und ein scharfer Kritiker der Regierung. Er sagt im Gespräch mit der "Wiener Zeitung", dass sich viele Studenten zu einem Netzwerk von Wahlbeobachtern zusammengeschlossen hätten. Sie wollen am Sonntag genau hinschauen, um Manipulationen zu verhindern.

Fingierte Zustimmungsraten

"Das Problem liegt nicht beim staatlichen Wahlrat oder bei der elektronischen Stimmenauszählung", sagt Iglesias. Das Problem liege darin, dass an den Wahlurnen fast ausschließlich Vertreter der Regierungspartei befinden. Es sei in der Vergangenheit vorgekommen, dass ein Wahlberechtigter ordnungsgemäß seinen Fingerabdruck und seine Registrierung abgeben habe, ein anderer dann aber für ihn gewählt habe. Diesen Hinweisen sei in der Vergangenheit nie nachgegangen worden, beklagt Iglesias.

Opposition entmachtet

Die Vorwürfe über Wahlfälschungen gab es schon bei der Präsidentschaftswahl 2013, als der Chavez-Wunschnachfolger Maduro nur knapp gegen den bürgerlichen Kandidaten Henrique Capriles gewann. Seitdem ist das Land nicht nur tief gespalten, es regiert der blanke Hass zwischen den beiden Lagern. Die Opposition hatte hunderte Hinweise zusammengetragen, Videos aus Wahllokalen, in denen sozialistische Wahlhelfer die Stimmabgabe überwachten oder von Jagdszenen in Oppositionshochburgen, in denen linksgerichtete Milizen, die gefürchteten regierungsnahen "Colectivos", Wähler einschüchterten. All diese Vorwürfe wurden nie untersucht, stattdessen verwies die Regierung genau wie heute auf das elektronische Stimmenauszählsystem, das aber all diese Manipulationen gar nicht messen kann.

In den vergangenen zwei Jahren hat die Regierung die Opposition zudem politisch enthauptet. Bis auf Capriles sind die wichtigsten Führungsfiguren verhaftet, verurteilt oder aus dem Parlament geworfen. Sie alle sollen Schuld gewesen sein an den gewalttätigen Ausschreitungen im Vorjahr oder Mordkomplotte gegen den Präsidenten geschmiedet haben. Menschenrechtsorganisationen und die katholische Kirche verurteilten das Vorgehen als politisch motiviert. Auch die Studentenbewegung ist eingeschüchtert. Nach den Massenprotesten vor über einem Jahr überlegen es sich die Studenten heute genau, ob sie noch einmal auf die Straße gehen. Gezielte Schüsse auf die Opposition, Hinweise auf Folterpraktiken in den Kellern der Polizei machen jeden Protest zu einer Mutprobe.

Sehnsucht nach Wechsel

Den beweisen die Frauen der inhaftierten Oppositionspolitiker. Allen voran Lilian Tintori, Ehefrau des zu 13 Jahren verurteilten Haft verurteilten Oppositionsführers Leopoldo Lopez. "Wir werden einen Wandel herbeiführen", beschwört sie auf der Bühne ihre Zuhörer. Die attraktive Ausdauerportlerin ist zum Gesicht der Opposition geworden, zur Stellvertreterin ihres Mannes. Zwar steht sie nicht selbst zur Wahl, doch sie hat auch den Respekt unentschlossener Wähler gewonnen.

Lopez und Tintori wurden von den Sozialisten als reiches, verwöhntes Glamour-Paar verspottet und offenbar völlig falsch eingeschätzt. Doch statt eines luxuriösen Exils in Miami-Beach wählten Lopez und Tintori den steinigen Weg. Und der führte Lopez in die Gefängniszelle in Caracas und seine Frau in bedrohliche Situationen wie vor einer Woche, als bei einem Wahlkampfauftritt Tintoris in unmittelbarer Nähe ein Oppositionspolitiker erschossen wurde. "Wir werden Venezuela niemals verlassen", kündigte Tintori an und verspricht für die Parlamentswahlen am Sonntag: "Wir werden den Wechsel erleben."