Berlin/Genf. 2015 dürfte die Zahl der Flüchtlinge nach Schätzung der Vereinten Nationen auf den höchsten Stand aller Zeiten steigen: Erstmals könnte sie die 60-Millionen-Marke überspringen, teilte das Flüchtlingshilfswerk UNHCR mit. Einer von 122 Menschen weltweit wäre damit Flüchtling, Asylsuchender oder innerhalb seines Heimatlandes vertrieben. Hauptursache sei der Syrien-Krieg. Doch selbst ohne Berücksichtigung des Konflikts nähmen Flucht und Vertreibung zu. "Es war nie wichtiger, Toleranz, Mitgefühl und Solidarität gegenüber den Menschen zu zeigen, die alles verloren haben", sagte UN-Flüchtlingskommissar António Guterres.
Die Schätzung basiert auf dem UNHCR-Halbjahresbericht, der die ersten sechs Monate dieses Jahres umfasst. Demnach überstieg die Zahl der Flüchtlinge Mitte 2015 mit 20,2 Millionen Menschen weltweit zum ersten Mal seit 1992 die 20-Millionen-Marke. Geschätzte 34 Millionen Menschen seien Binnenvertriebene gewesen. Die Zahl der Asylanträge sei im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 78 Prozent auf 993.600 geklettert. Die meisten seien in Deutschland gestellt worden. Mit 159.000 seien es in der ersten Jahreshälfte 2015 bereits fast genauso viele wie im gesamten vergangenen Jahr gewesen. Dabei spiegele der Bericht die aktuellen Fluchtbewegungen über das Mittelmeer nach Europa nur teilweise wider, da die Ankünfte erst in der zweiten Jahreshälfte stark angestiegen seien. Insgesamt werden allein in Deutschland 2015 mehr als eine Million Flüchtlinge erwartet.
Druck auf die Aufnahmeländer
Bei allen aufgeführten Gruppen - Flüchtlingen, Asylsuchenden und Binnenvertriebenen - sei ein alarmierender Anstieg zu verzeichnen, teilte das UNHCR mit. Damit werde auch der Druck auf die Aufnahmeländer immer größer. Ohne entsprechende Maßnahmen bestehe die Gefahr, dass Flüchtlinge auf Ablehnung stießen und für politische Zwecke instrumentalisiert würden. "Flucht und Vertreibung prägen unsere Zeit", sagte Guterres. Millionen Menschen seien betroffen, sowohl jene, die zur Flucht gezwungen worden seien als auch jene, die ihnen Zuflucht und Schutz gewährten.Den Großteil der Verantwortung für die Aufnahme tragen dem Bericht nach die Länder, die unmittelbar an die Konfliktzonen angrenzen. In absoluten Zahlen habe die Türkei bis 30. Juni mit 1,84 Millionen die meisten Flüchtlinge unter UNHCR-Mandat aufgenommen. Im Verhältnis der Flüchtlingszahl zur einheimischen Bevölkerung nahm der Libanon mit 209 Flüchtlingen pro 1.000 Einwohnern die meisten Menschen auf. An Platz zwei steht Jordanien mit 90, gefolgt von Nauru (51) und dem Tschad (31). Mit 469 Flüchtlingen pro Dollar des Bruttoinlandsprodukts trage Äthiopien in Relation zu seiner Wirtschaftskraft die größte Last.
Gleichzeitig sank die Zahl freiwilliger Rückkehrer. Sie beschreibt, wie viele Flüchtlinge sicher nach Hause zurückkehren können. Bis Mitte des Jahres seien es schätzungsweise 84.000 gewesen. "Wer heutzutage ein Flüchtling wird, hat schlechtere Chancen in seine Heimat zurückzukehren als zu jedem anderen Zeitpunkt in den letzten 30 Jahren", so dass UNHCR.