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"Wir hassen den Islamischen Staat"

Von Markus Schauta

Politik

Nach einem Jahr unter dem IS beschloss Maher zu fliehen.


Gaziantep. Der Euphrat teilt die syrische Stadt Deir ez-Zor in zwei Hälften. Südwestlich des Flusses landen täglich Frachtmaschinen des syrischen Regimes und versorgen die Stadtteile rund um den Flughafen mit Nahrung, Munition und Medikamenten. Die Stadt nördlich des Flusses und das Umland mit seinen Ölfeldern kontrolliert seit Mitte 2014 die Terrormiliz des Islamischen Staats (IS). Die Menschen unter der Herrschaft des IS sind regelmäßigen Bombardements ausgesetzt - von der syrischen Luftwaffe und seit Monaten auch durch russische Bomber.

Maher lebte bis vor drei Monaten im vom IS kontrollierten Teil Deir ez-Zors. Eines Tages klopften die Islamisten an seine Tür; sie wollten, dass er den Treueschwur auf den Islamischen Staat ablegt.

Ein sonniger Spätherbsttag in Gaziantep. Maher, Anfang 30 mit kurzrasiertem Bart, sitzt vor einem Café und trinkt Bier. Er ist in Sicherheit, seinen Nachnamen will er trotzdem nicht in der Zeitung lesen. Für die Rasur und den Bierkonsum wäre er noch vor zwei Monaten bestraft worden. Denn im Islamischen Staat sind Alkohol und Bartrasuren verboten. Um seine Verordnungen durchsetzen zu können, hat der IS in Mahers Heimatstadt Deir ez-Zor ein Hizbah-Büro eingerichtet. "Diese Religionspolizei kontrolliert die Straßen der Stadt, ob die Frauen verschleiert sind und ob die Menschen in die Moschee gehen", so Maher. Sind während der Gebetszeit Personen auf der Straße anstatt in der Moschee, werden diese verhaftet. Ebenso haben Läden während des Gebets geschlossen zu sein. "Neben der Hizbah spielen sich aber auch gewöhnliche Kämpfer als Religionspolizei auf und verhaften Zivilisten." Unter diesen Kämpfern seien viele Ausländer, auch Europäer; Franzosen und Belgier. Darunter ein französischer Computer-Techniker. "Sie verstehen etwas Arabisch", sagt Maher, "sind aber nicht gut im Sprechen."

Er zündet sich eine Zigarette an. Auch das Rauchen hätte ihn damals in große Schwierigkeiten bringen können. Um den Repressionen möglichst zu entgehen, hat Maher seine Freunde in privaten Wohnungen getroffen. Dort konnte geraucht und über die Islamisten offen gesprochen werden. "Wir hassen den Islamischen Staat", sagt er. Alle wollen diese Fanatiker loswerden, aber es gebe keine Aussicht auf einen Aufstand. Die Waffen seien eingesammelt worden. "Wer eine besitzt, läuft Gefahr, geköpft zu werden." Viele Eltern unterrichten ihre Kinder zuhause. In den Moscheen gebe es zwar Schulunterricht, aber die Einwohner wollen nicht, dass ihre Kinder vom IS unterrichtet werden.

In der Öffentlichkeit passt man sich den Regeln der neuen Machthaber an. Maher schnitt sich den Bart gemäß den Vorgaben: oberhalb der Lippe abrasiert, den Rest ließ er wachsen. Er trug die Hosen halb lang, rauchte nur mehr zuhause. "Alkohol kann man in Deir ez-Zor keinen mehr kaufen", sagt Maher. Das sei viel zu gefährlich. "Wenn sie dich einmal erwischen, werden sie dich bestrafen. Beim zweiten Mal verlierst du den Kopf."

Haschisch und Zigaretten seien immer noch erhältlich. Die Schmuggler verlangen aber hohe Preise; 200 syrische Pfund für eine Schachtel Zigaretten - doppelt so viel als in der Zeit, bevor der IS in die Stadt kam. Auch Musik sei inzwischen verboten. Einmal hat die Religionspolizei eine Hochzeitsgesellschaft verhaftet, weil sie gesungen und dazu im Rhythmus geklatscht hatten. "Die sind verrückt", sagt Maher.

Öffentliche Hinrichtungen

Dass der IS mit Bestrafungen nicht lange fackelt, wissen alle in der Stadt. "Es gibt viele Enthauptungen mit dem Schwert." Die Hinrichtungen finden öffentlich statt. Das geschehe spontan und werde nicht vorher angekündigt. Maher sagt, er wollte sich so etwas nie ansehen. Aber wenn man zufällig in der Nähe ist, werde man vom IS aufgefordert, zuzusehen. Zur Abschreckung. Manchmal werden die Leichen der Hingerichteten durch die Straßen gezogen und dann für drei oder vier Tage an öffentlichen Plätzen aufgehängt. Später begräbt man sie. Maher sah, wie sie einen Drogenhändler erschossen haben. Ein anderer wurde mit einem Gürtel ausgepeitscht, weil die Hizbah ihn beim Rauchen erwischt hatte. Und einmal sah er, wie sie einem Dieb die Hand abhackten. "Die Leute, die das mitansahen, war froh", so Maher, "weil der Kerl viel gestohlen hatte." Er bekam eine Injektion gegen die Schmerzen. Dann schlug ihm einer mit dem Schwert die Hand ab. Der Armstumpf wurde abgebunden, damit er nicht verblutet. Anschließend schafften sie den Mann ins Spital.

Arbeitgeber IS

Lebensmittel werden weiterhin in die Stadt geliefert, aber den meisten fehle inzwischen das Geld, um sie bezahlen zu können. "Die Soldaten des IS hingegen haben Geld", sagt Maher. "Nur sie und Leute, die für den IS arbeiten." So wie Maher es tat. Bevor der IS kam, hatte er eine Anstellung in der Wartungsabteilung einer staatlichen Strom-Gesellschaft. Doch als die Islamisten das Gebiet unter ihre Kontrolle brachten, stellte das Regime die Zahlungen an die Mitarbeiter ein. "Der IS zahlte seitdem unsere Löhne", sagt Maher, "hundert US-Dollar im Monat." So konnte die Stromversorgung aufrechterhalten werden; 24 Stunden am Tag. Aber seit einem Bombardement Ende November gebe es nur mehr wenige Stunden am Tag Strom, weiß Maher von Freunden, die noch in Deir ez-Zor leben. Er kommuniziert mit ihnen über das Internet. Das GSM-Netz des Regimes ist in dem vom IS kontrollierten Teil der Stadt zwar schwach, aber die Kommunikation funktioniere noch. Internet-Cafés seien schon im Mai 2015 geschlossen worden. "Der IS sagte, es gebe Spione in der Stadt, die Koordinaten wichtiger Gebäude an den Feind weiter geben", so Maher. Es sei aber auch eine Art Bestrafung für die Bevölkerung gewesen. "Mitglieder des IS beschwerten sich, dass die Bewohner von Deir ez-Zor mehr Zeit im Internet als mit dem Dschihad verbringen."

Auf Jobsuche in der Türkei

Irgendwann klopfte der IS an seine Tür. "Sie wollten, dass ich "Bai’a" ablege", sagt Maher. Er hätte also dem IS die Treue schwören sollen. "Das wollte ich nicht." Er entschloss sich zur Flucht. "Innerhalb des Islamischen Staates kannst du dich bewegen, wie du möchtest", sagt er. Also fuhr er mit dem Bus von Deir ez-Zor bis Raqqa. Und weiter nach Aleppo und über Azaz bis zur syrisch-türkischen Grenze bei Reyhanli. Zehn Stunden brauchte er für die Reise, erinnert er sich. Dann musste er einem Schmuggler hundert US-Dollar bezahlen, damit der ihn über die Grenze brachte. Die offiziellen Übergänge in die Türkei seien zu dieser Zeit geschlossen gewesen. "Inzwischen hält der IS die Menschen davon ab, sein Gebiet zu verlassen." Junge Leute wie er dürfen ohne Erlaubnis nicht gehen. Die Ausreise werde nur Schwerkranken erlaubt, die für eine ärztliche Behandlung ins Ausland müssen, und den Lkw-Fahrern, die Lebensmittel oder Öl transportieren.

Ob das Bombardement gegen den Islamischen Staat etwas bewirke? "Es tötet mehr Zivilisten, als IS-Kämpfer", sagt Maher. Dennoch glaubt er, dass der IS in absehbarer Zeit kollabieren wird. Zumindest im syrischen Teil. Die Führungsriege sei längst im Irak. Auch die Familien der Auslandskämpfer seien wegen den Luftschlägen aus Deir ez-Zor weggezogen. "Die sind nach Mossul gegangen." Für ausländische Kämpfer sei es jetzt schwieriger ,in den IS zu gelangen. Jarabulus, der einzige vom IS noch kontrollierte Grenzübergang, werde vom türkischen Geheimdienst überwacht.

"Es gibt jetzt viel Bewegung", sagt Maher und deutet mit seinem Finger auf die Syrienkarte, die aufgebreitet am Tisch liegt. "Bei Reyhanli überqueren sie die Grenze." Einzelpersonen seien es, oder kleine Gruppen von fünf oder sechs Leuten; IS-Kämpfer aus Saudi-Arabien, Tunesien, Marokko und Ägypten. "Sie wollen raus aus Syrien und zahlen den Schmugglern viel Geld, damit diese sie über die Grenze bringen."

Die Sonne steht tief, die Tische vor dem Kaffeehaus liegen jetzt im Schatten. Maher ist froh, Syrien verlassen und den Islamischen Staat hinter sich gelassen zu haben. Hier in Gaziantep sucht er nun Arbeit, um das Ende des Krieges abzuwarten. 450 Kilometer Straße liegen zwischen ihm und Deir ez-Zor. Solange der IS seine Heimatstadt beherrscht, ist der Weg dorthin zurück für ihn versperrt.