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Mehr Distanz zum großen Bruder

Von WZ-Korrespondentin Sonja Blaschke

Politik

Bei den Wahlen in Taiwan geht es nicht nur darum, wer das Land künftig regiert. Die Inselnation will auch aus dem Schatten Chinas heraustreten, das Taiwan für sich beansprucht.


Taipeh. Kleine Minibusse kreisen durch die Stadtviertel von Taipeh. Ihre Seitenwände sind mit großen Plakaten tapeziert. Im Sekundentakt plärren aus den Lautsprechern darauf laute Reden auf Chinesisch. Bestimmte Elemente wiederholen sich - wohl die Namen der Kandidaten und der Partei, für die sie ins Rennen gehen. Der Wahlkampf ist in vollem Schwung in Taiwan, nicht nur sichtlich, sondern vor allem weithin hörbar. Am 16. Januar finden in der ostasiatischen Inselnation, die früher Formosa - "die Schöne" - hieß, Präsidentschaftswahlen statt. Alle erwarten eine klare Niederlage der amtierenden Kuomintang (KMT), die Taiwan seit 1947 dominierte. Sie dürfte sowohl das Präsidentenamt als auch die Kontrolle über die Mehrheit im Parlament verlieren. Die Demokratische Fortschrittspartei (DPP), die von 2000 bis 2008 schon zwei Amtszeiten lang den Präsidenten stellte, dürfte sehr wahrscheinlich wieder das Ruder übernehmen. Ihre Kandidatin, die 59-jährige Juristin Tsai Ing-wen, führt klar mit über rund 25 Prozentpunkten vor dem nächstplatzierten Kandidaten der KMT, Eric Chu.

Kuomintang vor der Ablöse

Eines ist bereits jetzt klar: Die Taiwanesen haben genug von der KMT, die bis Ende der 1980er Jahre das Land mit eiserner Hand als Einparteienstaat regierte. Auch wenn sich seit der Demokratisierungsbewegung in den 1990er Jahren einiges zum Positiven geändert hat, ist das Misstrauen gegenüber der KMT so groß wie lange nicht mehr. Daran schuld ist nicht zuletzt der seit 2008 amtierende Präsident Ma Ying-jeou. Der 65-jährige Ex-Bürgermeister von Taipeh hat Taiwan näher als je zuvor seit dem Zweiten Weltkrieg an den großen Nachbarn, die Volksrepublik China, herangeführt. Zuletzt hatte er am 7. November den chinesischen Präsidenten Xi Jinping in Singapur getroffen. Es war das erste Treffen der Regierungschefs der beiden Länder überhaupt.

Dieser Kuschelkurs mit China, noch dazu oft hinter verschlossenen Türen, ist vielen Taiwanesen ein Dorn im Auge. Die einen fürchten wirtschaftliche Nachteile durch einen stärkeren Einfluss Chinas auf Taiwan, die anderen den Verlust ihrer hart erkämpften Demokratie, auf die man in Taiwan sehr stolz ist. Die Reaktion auf das Treffen zwischen Ma und Xi offenbare einen Generationskonflikt, sagt der Politologe Wu Yu-shan von der Hochschule Academia Sinica. Taiwanesen über 40 würden es eher positiv beurteilen, jüngere Taiwanesen negativ. Die Einstellung zu China ist eng mit der Frage der Identität verknüpft. "Die meisten empfinden sich als Taiwanesen", sagt Professor Lu Ya-li von der Taiwan National University über seine Landsleute, "und ihre Zahl nimmt zu." Er selbst, 79 Jahre alt, sehe sich wie viele Ältere als Chinese.

Die ethnische Gruppe der Han-Chinesen dominiert seit Ende der 50-jährigen japanischen Kolonialzeit 1945 die kleine Inselnation mit ihren nunmehr 23 Millionen Einwohnern, die gerade halb so groß wie das deutsche Bundesland Bayern ist. Damals flohen nach Ende des Chinesischen Bürgerkrieges die Nationalisten unter Chiang Kai-shek vor den Kommunisten nach Taiwan. Dort errichteten sie eine Gegenregierung mit dem Ziel, eines Tages über ganz China zu herrschen. Die Volksrepublik wiederum sieht Taiwan als Teil ihres Territoriums an.

Unentbehrlicher Nachbar

Entsprechend ist das bilaterale Verhältnis so vielschichtig wie kompliziert. Die Taiwanesen seien nicht dagegen, dass Taiwan Beziehungen zu China unterhalte, sagt Shieh Jhy-wey, der früher als Vertreter Taiwans in Deutschland war. Sie würden zum Beispiel die wirtschaftlichen und touristischen Beziehungen zur Volksrepublik schätzen. 2014 besuchten über vier Millionen chinesische Touristen die Insel - ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Umgekehrt sollen Schätzungen nach zwischen zwei und vier Millionen Taiwanesen in der Volksrepublik arbeiten. Dort können sie besser verdienen als zuhause. "Die chinesische Wirtschaft hat eine gewaltige Auswirkung auf Taiwan", sagt der Experte Darson Chiu vom Taipei Institute of Economic Research.

Gleichzeitig macht vielen Taiwanesen eine zu große Abhängigkeit von China Angst. Dies spiegeln auch die Großdemonstrationen in Taipeh vor knapp zwei Jahren wider. Damals hatten Studierende aus Protest gegen ein Dienstleistungsabkommen mit China das Parlament gestürmt und wochenlang besetzt. Auf den umliegenden Straßen versammelten sich hunderttausende Bürger zur Unterstützung. Zwar wurde das Abkommen seit der "Sonnenblumen-Bewegung" nicht ad acta gelegt, aber doch auf Eis. Sich ganz von China abzuwenden und offensiv auf die eigene Unabhängigkeit zu pochen, möchten viele Taiwanesen wiederum auch nicht, auch nicht die DPP. "Eine Fraktion der DPP ist für die totale Unabhängigkeit", sagt Professor Lu, der als Experte für die bilateralen Beziehungen gilt. "Aber sie können die Bindungen nicht kappen, China ist zu stark."

Die DPP-Chefin Tsai rief China dazu auf, den demokratischen Prozess in Taiwan zu akzeptieren. Sie sagte in einer Fernsehdebatte, dass Peking eine "vernünftige Einstellung" im Umgang mit ihrer Partei an den Tag legen werde. Selbst wenn es wirtschaftliche Vorteile brächte, möchten viele junge Taiwaner keine weitere Annäherung an China. Christine Lee, eine 28-jährige Geschäftsfrau, bringt auf den Punkt, was vor allem viele junge Taiwaner denken: "Wenn wir ein Teil von China würden, dann wäre das so, als würde man jemanden wegen des Geldes heiraten."